"Würden dauerhafte NATO-Präsenz begrüßen"
3. September 2014DW: Vor dem Hintergrund der eskalierenden Ukraine-Krise signalisiert der Estland-Besuch von US-Präsident Barack Obama die amerikanische Unterstützung, insbesondere für die östlichen NATO-Staaten wie das Baltikum. Was erhofft sich Estland über diese symbolische Unterstützung Obamas hinaus?
Urmas Paet: Zunächst einmal sendet Obamas Besuch in Estland einen Tag vor dem NATO-Gipfel eine sehr deutliche Botschaft. Zweitens ist sein Besuch in Estland, ebenso wie beim NATO-Gipfel, ein klares politisches Bekenntnis dazu, dass die Sicherheit aller NATO-Mitgliedsstaaten gleichbedeutend ist und Geografie oder Geschichte dabei keine Rolle spielen. Und drittens sind natürlich konkrete Schritte notwendig.
Wir hatten in den letzten Monaten in unserer Region einige sehr überzeugende und angemessene Entwicklungen. Der Flughafen in Ämari ist beispielsweise inzwischen ein integraler Bestandteil der NATO-Luftraumüberwachung im Baltikum. Zusätzlich haben wir mehr US-Bodentruppen vor Ort und NATO-Schiffe in der Ostsee sowie militärische Übungen. Natürlich hätten wir gerne, dass all dies bleibt. Zudem würden wir weitergehende Maßnahmen begrüßen. Dies vorzuschlagen und zu entscheiden liegt aber fachlich im Aufgabenbereich der NATO-Führung.
Eine der zusätzlichen Maßnahmen, die Sie erwähnt haben, ist der Aufbau einer NATO-Eingreiftruppe (NATO Response Force), die in Osteuropa stationiert wird. Dies wird wahrscheinlich beim kommenden Gipfel beschlossen.
Das ist einer der konkreten Vorschläge und ich hoffe natürlich, dass dafür entschieden wird.
Die osteuropäischen NATO-Staaten haben auch auf die Einrichtung permanenter NATO-Basen in der Region gedrängt. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat am Wochenende berichtet, dass es fünf neue Stützpunkte in Osteuropa geben soll, einen davon in Estland. Können Sie das bestätigen?
Das kann ich noch nicht bestätigen. Die endgültige Entscheidung muss durch alle NATO-Partner auf dem Gipfel in Wales getroffen werden. Es ist zu früh, darüber eine Aussage zu machen.
Aber Sie hoffen, dass es dazu kommt?
Wie ich bereits sagte, haben wir schon 150 amerikanische Soldaten auf estnischem Boden. Wir würden es begrüßen, wenn die militärische Präsenz der NATO andauert. Über die genaue Benennung dieser Präsenz können wir debattieren, aber der wichtigste Punkt ist eine dauerhafte Präsenz der NATO hier. Das spielt natürlich eine symbolische, aber auch eine praktische Rolle.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), hat vor einer überzogenen Reaktion auf Moskaus Verhalten gegenüber der Ukraine gewarnt. Er unterstützt zwar den Aufbau einer NATO-Eingreiftruppe, lehnt aber weitergehende Maßnahmen ab, da Russland keine Bedrohung für ein NATO-Mitgliedsland darstelle. Was halten Sie davon?
Ich werde dazu nicht direkt Stellung beziehen. Ich glaube, es ist klar, dass niemand wahrhaben wollte, dass es im 21. Jahrhundert in Europa möglich ist, dass ein Land in ein anderes einmarschiert und versucht, Grenzen gewaltsam zu verändern. Das ist aber genau das, was wir in diesem Jahr zwischen Russland und der Ukraine gesehen haben. Wir sollten nicht vergessen, dass die Krim besetzt und annektiert wurde. Es ist offensichtlich, dass all dies für enorme Veränderungen im europäischen Sicherheitsumfeld gesorgt hat.
Die russische Invasion in der Ukraine hat gezeigt, dass für Russland die Schlussakte von Helsinki von 1975 keine Bedeutung mehr hat (Anm. d. Red.: Die Staaten des Warschauer Paktes und der NATO / der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft garantierten sich darin die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen und die friedliche Regelung von Streitigkeiten). Auch die in der Gründungsakte des NATO-Russland-Rates von 1997 festgelegten Leitsätze haben für Russland keine Bedeutung mehr. All jene Ereignisse in der Ukraine haben direkte Auswirkungen auf viele internationale Rechtsgeschäfte und Dokumente. Das ist der Grund, warum ich sage, dass sich die Bedrohungslage durch das russische Vorgehen in der Ukraine verändert hat.
Sie haben die NATO-Russland-Gründungsakte erwähnt. Müsste das Dokument, das die Beziehungen zwischen beiden Seiten regelt, vor dem Hintergrund der russischen Aktivitäten in der Ukraine berichtigt werden?
De facto auf jeden Fall. In dem Dokument ist von einer unveränderten europäischen Sicherheitslage die Rede. Doch es wurde bereits enormer Schaden angerichtet. Es ist klar, dass sich die Sicherheitslage verändert hat. De jure hat noch niemand erklärt, dass er sich nicht mehr als Teil der Vereinbarung sieht. Aber ich denke, es ist wichtiger, auf das Handeln als auf die Aussagen von Konfliktparteien zu schauen. Wir erinnern uns daran, dass Russland sagte, es habe nichts mit den Ereignissen auf der Krim zu tun - und ein paar Tage später dekorierte man russische Militärs, die für die Ereignisse verantwortlich waren.
Die EU hat erklärt, die Sanktionen gegen Russland auszuweiten. Einem Bericht zufolge schlägt Großbritannien vor, Moskau von SWIFT, dem Telekommunikationsnetz der Finanzbranche, abzuklemmen. Würden Sie einen Schritt für gut heißen, der zu schweren Schäden für die russische Wirtschaft führen würde?
Wir wollen ein Ende dieses Krieges. Wir sind für ein Ende des Konflikts in der Ukraine. Unglücklicherweise mussten wir feststellen, dass Politik und Diplomatie bisher nichts bewegt haben. Ebenso haben die Sanktionen bisher nicht die erwünschte Wirkung erreicht. Daher sehe ich keine andere Option, als weitere Maßnahmen und Sanktionen zu ergreifen, um die russischen Aktivitäten in der Ukraine zu stoppen. Ich bin nicht sicher, ob neue Sanktionen dem russischen Vorgehen in der Ukraine direkt Einhalt gebieten, aber es gibt keine bessere Option.
Hat der Westen überhaupt noch einen Pfeil im Köcher, um das russische Verhalten zu beeinflussen?
Der einzige Weg dazu geht über die Wirtschaft. Eine wirkliche Einflussnahme kann nur in den Bereichen erfolgen, die für Russland Haupteinnahmequellen darstellen.
Urmas Paet ist seit 2005 Außenminister Estlands.
Das Interview führte Michael Knigge.