Pünktlich wie die Eisenbahn
8. November 2014Als ich am frühen Nachmittag mit der Rolltreppe aus der U-Bahn-Station nach oben fahre, bietet sich ein für mich ungewöhnliches Bild. Dort, wo sich Freitags im Bonner Hauptbahnhof Reisende mit Rollkoffern und Taschen über Bahnsteige und durch Unterführungen drängen, um für das Wochenende zur Familie, zu Verwandten, Freunden oder einfach nur weg zu fahren, ist es diesmal fast schon menschenleer.
Dieser 7. November ist anders. Denn die Lokführer haben den längsten Bahnstreik seit 20 Jahren ausgerufen: für mehr Geld, für eine kürzere Arbeitszeit und für eine Stärkung ihrer Gewerkschaft GDL. Seit Tagen hatten alle deutschen Medien über den anstehenden Arbeitskampf von Mittwochabend bis Montagfrüh berichtet und eine gelähmte Republik vorhergesagt.
Die gelähmte Republik?
In der Tat strich der Staatsbetrieb Deutsche Bahn zwei Drittel der Zugverbindungen. Daraufhin sind viele Reisende auf Bus und Auto umgestiegen oder haben auf ihre Reisepläne gänzlich verzichtet - das jedenfalls belegt mein Blick über den sonst am Freitag so überfüllten Bonner Hauptbahnhof.
Aber einige wenige Passagiere ließen sich nicht entmutigen. Auch ich vertraue darauf, dass die Bahn Wort hält und ein Drittel der Züge rollen wird. Ich bin versucht, dem Lokführer, der meinen Intercity-Zug laut Ersatzfahrplan von Bonn nach Hamburg fahren soll, persönlich zu danken.
Drei Stunden Verspätung, voller Zug?
Noch ist es jedoch nicht so weit. Beim vorangegangenen Lokführerstreik vor rund zwei Wochen gab es ebenfalls einen Ersatzfahrplan mit deutlich weniger Zügen und ich musste lange auf meinen Intercity warten. Sollte auch heute meine Bahn ausfallen, würde es mir ähnlich ergehen. Anstatt um 20 Uhr wäre ich dann erst kurz vor Mitternacht an meinem Ziel. Mit Sorge blicke ich deshalb auf die Anzeigetafel - und werde sogleich beruhigt: Mein Zug kommt. Nicht einmal eine Verspätung wird angezeigt. Die Leuchtschrift verkündet nur, dass der Intercity um einen Wagon kürzer ausfällt. Das wäre auch im regulären Betrieb nichts ungewöhnliches.
Pünktlich auf die Minute - so wie es der eilig erarbeitete Ersatzfahrplan vorsieht - fährt mein Zug in den Bonner Bahnhof ein. In den Waggons bietet sich plötzlich wieder das gewohnte Bild: Jeder Sitzplatz ist besetzt, auch in den Gängen stehen und sitzen Menschen - es ist sogar noch etwas enger als sonst.
Kulanz anstatt deutscher Genauigkeit
Die Erklärung folgt sofort: Der Schaffner lässt auch jene Fahrgäste einsteigen, die nur die günstigeren Tickets für den Nahverkehr gelöst haben. "Die steigen am nächsten Bahnhof sowieso wieder aus", mutmaßt er, während die Tür sich schließt und der Zug sich in Bewegung setzt.
Der Mann soll recht behalten. Nach rund 20 Minuten Fahrt, leeren sich die Waggons im Kölner Hauptbahnhof zusehends. Hastig ergattere ich mir einen Sitzplatz. Ich hätte mich aber nicht beeilen müssen. Denn auch in Köln sind auf den Bahnsteigen nur wenig Menschen zu sehen und der Zug bleibt erstaunlich leer. Ein Soldat der Bundeswehr nimmt sogar zwei Sitze als provisorischen Schlafplatz ein und niemand protestiert. Kein Wunder, in dem Abteil ist genügend Platz übrig.
Überraschende Wende
Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt und vier weiteren Bahnhöfen piepsen mit einem Mal sehr viele Smartphones zeitgleich: Eilmeldungen diverser Nachrichtenseiten vermelden, dass der Lokführerstreik überraschend vorzeitig beendet werden soll. Anstatt erst am Montagmorgen will die Gewerkschaft GDL schon am Samstagabend die Züge wieder rollen lassen. Die Gewerkschaft, die in den vergangenen Tagen zunehmend als maßlos von den Medien kritisiert wurde, will ihren Schritt als "Versöhnungsgeste" verstanden wissen.
Routine statt Chaos
Um mich herum nehmen die Bahnfahrer die Nachricht ohne sichtbare Gemütsregung auf. Immerhin sitzen sie schon im Zug und fahren ihrem Ziel entgegen. Die Stimmung ist entspannt, für deutsche Verhältnisse nahezu fröhlich. Einige witzeln und erzählen sich gegenseitig ihre tollsten Erlebnisse vom Bahnfahren. Als der Schaffner kommt, fragt ein junger Mann mit leicht ironischem Unterton: "Warum kontrollieren Sie die Fahrkarten, es gelten doch sowieso alle Tickets in allen Zügen?" Der Schaffner zuckt mit den Schultern: "Ich muss doch arbeiten und irgendwie mein Geld verdienen" und entwertet mit einer Zange routinemäßig den Fahrschein.
"Kaffee, kalte Getränke, Schokoriegel!" Selbst die Servicekraft schiebt ihren Snackwagen wie jeden Freitag durch die Gänge der Waggons - im rollenden Zug macht alles einen ganz normalen Eindruck, man muss sich regelrecht ins Gedächtnis rufen, dass die Bahn eigentlich bestreikt wird.
Viele Räder stehen doch still
Aber spätestens bei der Einfahrt in die Bahnhöfe wird der Ausstand wieder sichtbar. Nicht nur wegen der wenigen Menschen auf den Bahnsteigen. In der einbrechenden Abenddämmerung stehen beispielsweise auf den Gleisen rund um Münster nur unbeleuchtete Lokomotiven und verwaiste Regionalbahnen. Der einzige Zug im Bahnhof mit Fahrgästen ist mein mittlerweile halbleerer Intercity nach Hamburg. Alles läuft nach Ersatzfahrplan - so scheint es.
Nach dreieinhalb Stunden Fahrt fährt der Zug mit einem Mal deutlich langsamer. Auf der Strecke werde gebaut, verrät die Durchsage des Schaffners. "Wir werden Bremen mit einer Verspätung von etwa sieben Minuten erreichen." Eine Freundin aus Belgien machte sich bei solchen Aussagen gerne über die deutsche Genauigkeit lustig: "Approximately" lautete in solchen Fällen ihr knapper sarkastischer Kommentar.
Eine fast ganz gewöhnliche Bahnfahrt
Auf der heutigen Bahnfahrt wächst das "Ungefähr" - und der Streik hat dran erkennbar keine Schuld. Eine weitere Durchsage erklärt, warum der Zug nicht nur langsam nach Bremen sondern auch langsam weiter fährt: "Meine Damen und Herren, wegen eines Defekts am Triebwagen kann unser Zug nicht mit voller Geschwindigkeit fahren, weshalb wir Hamburg mit einer Verspätung von mindestens einer halben Stunde erreichen werden."
"Obwohl nur wenige Züge fahren, verzichtet die Bahn nicht auf die gewohnte Verspätung auf dieser Strecke", sagt ein Fahrgast quer über den Gang zu seinem Sitznachbarn und lächelt. Der nickt nur etwas gequält.
Am Ende sind es exakt 43 Minuten, die der Intercity in Hamburg zu spät einfährt. Es gab Freitage, da war die Verspätung größer - ohne Streik. Als ich wieder auf einem fast menschenleeren Bahnsteig an der Lokomotive meines Intercitys vorbeigehe, kann ich den Lokführer sehen und dann ist der Impuls doch zu groß: Zum Dank halte ich meinen ausgestrekten Daumen in die Höhe.