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Bahnstreik

Heiner Kiesel6. November 2014

Millionen Deutsche sind von den Folgen des größten Bahnstreiks der vergangenen 20 Jahre betroffen. Dumm nur, wenn es einen selber trifft. Ein Erfahrungsbericht.

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Bahnstreik Hauptbahnhof Berlin 06.11.2014 (Foto: DW/Kiesel)
Bild: DW/H. Kiesel

Komme ich hier jemals wieder weg? Hier, das ist Berlin. Die Arbeitswoche ist auf der Zielgeraden und am Freitag möchte ich wieder zu meiner Familie nach Franken. Ein Bahnticket habe ich dafür. Der Rand davon ist schmuddelig, weil meine Hände jedes Mal schwitzen, wenn ich es anfasse. Bahnstreik! Der längste in der Geschichte der Deutschen Bahn. Die Lokführergewerkschaft GDL streitet sich mit der Bahn AG über fünf Prozent mehr Lohn und das Recht, auch für das sonstige Zugpersonal verhandeln zu dürfen. Andere streiten und ich bin eines der vielen Opfer. Das erste Gefühl, das sich einstellt, ist Hilflosigkeit. Warum gerade jetzt?

Danach kommt Panik, die hektische Schwester der Hilflosigkeit. Artikel bleiben liegen, Recherchen konzentrieren sich jetzt darauf, festzustellen, wie schlimm es wird. Die Kollegen in den Medien sorgen dafür, dass in mir ein gefährlicher Gefühlscocktail entsteht. Die Boulevardblätter "Bild" und "Focus" haben in GDL-Chef Claus Weselsky den Bösewicht ausgemacht, der mit einem gefährlichen Ego-Trip die Republik an den Rande des Ruins führt. Sie haben indirekt dazu aufgerufen, ihn entweder über sein Bürotelefon zu beschimpfen oder ihn und seine Familie an seinem Wohnort zu behelligen. GDL könnte soviel bedeuten wie Gewerkschaft dämonischer Lokführer. "Der Bahnsinnige" nennt "Bild" Weselsky.

Bahnstreik Hauptbahnhof Berlin 06.11.2014 (Foto: DW/Kiesel)
Gelassenheit: Hauptbahnhof Berlin am ersten Tag des StreiksBild: DW/H. Kiesel

Die Lokführer und das Allgemeinwohl

Die Bundeskanzlerin appelliert an die Lokführer, ihrer Verantwortung für das Land gerecht zu werden und ein Einsehen zu haben. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hält sein graues Gesicht in die Kameras und findet es sehr schlimm, dass der Streik die Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum des Mauerfalls beeinträchtigen könnte. Böse Lokführer, die verhindern, dass Abertausende von Feierwilligen in die Hauptstadt kommen. Auch die Helfer, die leuchtende Luftballons auf dem ehemaligen Verlauf der Mauer installieren sollen, müssen an Ort und Stelle sein! Chemie- und Stahlindustrie könnten beeinträchtigt werden, an den Tankstellen, so warnen Fachleute, könnte der Sprit ausgehen. Ein Land in Angst! Es ist Zeit für einen Besuch in der Realität.

Von meinem Arbeitsplatz zum Hauptbahnhof sind es fünf Minuten zu Fuß. Erster Eindruck von der Straße: Weniger Verkehr als sonst. Kein Verkehrschaos, und das, obwohl die S-Bahn nicht fährt. Von Berlins Touristikmanagern bei Visit Berlin weiß ich inzwischen, dass die Bevölkerung wahrscheinlich findiger und klüger ist, als Politiker und Fachleute annehmen. "Ich gehe nicht davon aus, dass weniger Menschen nach Berlin kommen", gibt sich Visit-Berlin-Sprecher Björn Lisker überzeugt. Etwa eine Million Menschen erwartet er bei den Feierlichkeiten in Berlin trotz Streikwochenende. "Die Leute lassen sich das nicht vermiesen und organisieren sich alternative Reisewege." Auf den öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt hält Lisker große Stücke. Darf er natürlich, weil er im Stadtmarketing arbeitet. Überhaupt machen Busse und Autovermietungen in diesen Tagen ein gutes Geschäft. Bloß für mich gibt es kein passendes Angebot mehr.

Bahnstreik Busbahnhof Berlin 06.11.2014 (Foto: DW/Kiesel)
Am Berliner Zentralen Busbahnhof sind die Fernbusse ausgebucht, aber niemand maultBild: DW/H. Kiesel

Hoffen auf den Notfallplan

Im glasüberdachten Zugtempel namens Hauptbahnhof sind allerdings auch deutlich weniger Menschen als sonst. Zuerst ein Besuch im Reisezentrum - schließlich geht es um mich. Mein abgegriffenes Ticket wird von einem ernst, aber gütig blickenden Mann in blauer Uniform begutachtet. Dann lächelt er. "Das ist der einzige Zug, der es wahrscheinlich am Freitag in den Süden schaffen wird", verheißt der Bahnangestellte. Der Notfallfahrplan würde dafür sorgen, dass trotz Megastreik ein Drittel der Züge fahren könne. Das erscheint mir eine ganze Menge, angesichts der Ängste, die mich im Vorfeld durchwallt haben, und der finsteren Szenarien, die in den vergangenen Tagen ausgebreitet worden sind. Es gibt 20.000 Lokführer, von denen dürfen 4.000 gar nicht streiken, weil sie Beamte sind, und eine ganze Reihe ihrer Kollegen gehören nicht zur GDL. Früher waren sie alle Beamte - aber da war eh alles besser und eine Zugfahrt noch erheblich billiger.

Sind GDLer glücklicher als Beamte? Ich würde gerne einen fragen, aber ich finde keinen im Hauptbahnhof. Die einzigen Gewerkschafter, die ich finde, gehören zur konkurrierenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Die Vizevorsitzende des Ortsverbandes Berlin, Katrin Dornheim, steht im Foyer mit ihren Kollegen - alle in orangfarbenen Westen. "Wir wollen hier unseren Kollegen, die vom Streik betroffen sind, den Rücken stärken und den Kunden helfen", erklärt Dornheim. Sie ärgert sich, weil nirgendwo einer von den Streikgewerkschaftern zu sehen ist. "Die zeigen sich nicht, sondern erst wenn sich ein Fernsehteam ankündigt, dann kommen sie aus ihren…" - an dieser Stelle verschluckt Dornheim ein "L" und sagt schließlich "…Ecken".

Bahnstreik Katrin Dornheim, EVG, 06.11.2014 Berlin (Foto: DW/Kiesel)
Gewerkschafterin Katrin Dornheim ist sauer auf die GDLBild: DW/H. Kiesel

Die Ungewissheit bleibt

Ich bohre jetzt lieber nicht weiter, warum Dornheim die GDL-Streiker in irgendwelchen Löchern vermutet, sondern vergewissere mich lieber selbst, ob der Notfallfahrplan funktioniert. Ich habe Hoffnung geschöpft, mit meiner Familie am Samstag frühstücken zu können. Aber Skepsis bleibt natürlich angebracht. Die wächst bei einem Besuch auf dem Bahnsteig. Dort warten Menschen, die nach Hannover wollen. 25 Minuten hat ihr Zug schon Verspätung. "Das kann auch gerne noch eine Stunde werden, das weiß ich vom letzten Streik", sagt eine Passagierin. Naja, und Verspätung haben die Züge der Bahn im Normalbetrieb ja auch oft. Verzweifelt wirkt hier niemand. Wütend auch nicht. "Ach, wissen Sie, es wird in Deutschland so wenig gestreikt und dann ist das doch ein wichtiges Grundrecht, das die ausüben", betont ein junger Kurzbartträger, der sich als Julian vorstellt. Ich stecke mein durchweichtes Ticket wieder in die Jackentasche. Morgen weiß ich mehr.