Orbans "patriotische Wehrkunde" für Schüler
14. August 2017Marschieren im Gleichschritt, Schießen, Granatenwerfen, dazu patriotische Propagandafilme, Fahnenappelle und Kriegsheldengedenken - das gehörte unter den kommunistischen Diktaturen zum Alltag an Schulen und war ein Eckpfeiler totalitär-militaristischer Erziehungskultur. Den berüchtigten Wehrkunde-Unterricht schafften alle ehemaligen Staaten Mittel- und Südosteuropas nach dem Wendejahr 1989 umgehend und geräuschlos ab - über wenige andere Maßnahmen bei Bildungsreformen herrschte in den Gesellschaften der Region so viel Konsens.
Nun jedoch wird der verpflichtende Wehrkunde-Unterricht in Ungarn für Kinder und Jugendliche wieder eingeführt. So ordnete es Ende Juli der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in der Regierungsentscheidung 1462/2017 an. Das "Ministerium für Menschliche Kraftquellen" (eine Art Superministerium für Soziales, Bildung, Jugend, Familie, Gesundheit, Kultur und Sport) und das Verteidigungsministerium erhielten von Orban die Weisung, bis Jahresende ein sogenanntes "Patriotisches und Heimatwehr-Erziehungsprogramm" für den Schulunterricht auszuarbeiten, mit dem bei Schülern eine patriotische Einstellung und eine hohe Verteidigungsbereitschaft gefördert werden soll.
"Wir sprechen von einem Lebensgefühl"
Vergangene Woche nannte der im "Ministerium für Menschliche Kraftquellen" für Erziehungsfragen zuständige Vize-Staatssekretär Zoltán Maruzsa Einzelheiten zum neuen Wehrkunde-Unterricht. Nach seinen Worten geht es nicht um ein spezielles Lehrfach, sondern um ein Erziehungskonzept, das in den "Nationalen Grundlehrplan" (NAT) für Schulen einfließen und fächerübergreifend eingeführt werden soll. "Wir sprechen von einem Lebensgefühl, das heute schon im Geschichts- und Geographie-Unterricht präsent ist und auch in Musik und Sport präsent sein kann", sagte Maruzsa der regierungsnahen Zeitung "Magyar Idök". Denkbar sei die Einführung von Sportschießen oder Kampfsportarten. Es sei wichtig, dass das Bildungssystem der Bevölkerung die Verantwortung und Verpflichtung zur Heimatverteidigung und zur Heimatliebe vermittele, so Maruzsa.
Vertreter von Pädagogen-Gewerkschaften, Bildungsexperten und Politologen äußerten sich in ungarischen Medien entsetzt über das Vorhaben und sprachen von der "Militarisierung der Schulen". Im Gespräch mit der Deutschen Welle wirft der bildungspolitische Experte der "Gewerkschaft der Pädagogen" (PSZ), János Szüdi, der ungarischen Regierung vor, sie greife die schlechtesten Traditionen kommunistischer Bildungspolitik auf. "Wir haben früher in der Schule Schießen und Granatenwerfen gelernt, das war und ist ein Fehler", so Szüdi. "Genau wie damals will der Staat auch jetzt immer mehr Erziehungsziele festlegen. Erst kamen die Programme zur moralisch-ethischen Erziehung, jetzt kommt die patriotisch-militärische Erziehung, und überhaupt will die Regierung am liebsten das ganze Land nach ihren Vorstellungen erziehen."
Re-Militarisierung Ungarns
Der Politologe und Direktor des liberalen Budapester Politikforschungsinstitutes "Political Capital", Péter Krekó, erklärt im Gespräch mit der Deutschen Welle, das Erziehungsprogramm diene zwei Zielen: "Zum einen geht es um eine explizite Re-Militarisierung Ungarns nach der Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2004. Zum anderen hat die Regierung vielfach deutlich gemacht, dass sie patriotische Gesichtspunkte in der Bildung mindestens für ebenso wichtig hält wie die Wissensvermittlung. Deshalb ist das ungarische Bildungssystem bereits jetzt in gefährlicher Weise zu einem Schauplatz ideologischer Indoktrination geworden."
Der Politologe und Direktor des regierungsnahen Budapester Nezöpont-Instituts, Ágoston Mráz, hält solche Vorwürfe für abwegig - die Orban-Regierung hege weder "militante noch totalitäre Absichten". "Es ist zwar eine Tatsache, dass das patriotische Erziehungsprogramm der Regierung mit einer liberal-individualistischen Staatskonzeption schwer vereinbar ist", so Mráz. Jedoch müsse man berücksichtigen, dass einige Nachbarn Ungarns wie die Ukraine und Österreich weiterhin eine Wehrpflicht hätten, außerdem verlangten die USA von Europa höhere Verteidigungsausgaben. "Vor diesem Hintergrund ist die Absicht der Regierung vielleicht verständlicher", so Mráz.
Schießplätze auf Schulgeländen?
Tatsächlich drängt Orban seit längerem auf eine Vergrößerung des Militärs in Ungarn und auf eine generelle Stärkung der Wehrbereitschaft durch mehr "patriotische Körpererziehung" an Schulen. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht schloss er bisher zwar aus. Doch im Herbst letzten Jahres schlug er die Aufstellung von Freiwilligeneinheiten in allen 197 ungarischen Landkreisen vor, eine Art Nationalgarde mit insgesamt 20.000 Soldaten, was einer Verdopplung der derzeitigen Armeestärke Ungarns bedeuten würde. Das Verteidigungsministerium arbeitet derzeit an der Umsetzung des Programmes.
Bereits vor einigen Monaten diskutierte die ungarische Regierung über die Einführung von Schießunterricht für Schüler und die Einrichtung von Schießplätzen auf Schulgeländen. Freiwillige Wehrkunde-Kurse an Schulen bietet das Verteidigungsministerium unter dem Namen "Soldatenschule" bereits seit 2005 an; nach dem Wahlsieg von Orban und seiner Partei Fidesz im Frühjahr 2010 wurde das Programm stark ausgeweitet. Die ungarische Polizei wirbt ihrerseits unter Jugendlichen höherer Jahrgänge für eine Ausbildung bei den "Grenzjägern" - eine im vergangenen Jahr neu geschaffene Grenzpolizei-Einheit, die die ungarische Südgrenze vor illegal einreisenden Flüchtlingen schützen soll.
Doch die Begeisterung für den neuen Militär- und Patriotismus-Kult in Ungarn hält sich unter jungen Leuten offenbar in Grenzen: Trotz großer Werbeaktionen finden derzeit weder Polizei noch Verteidigungsministerium genügend Rekruten für Grenzjäger- und Nationalgarde-Einheiten.