Olympia in der Kloake
1. August 2016Alex Sandro dos Santos steht auf dem alten Holzsteg, der vom Ufer der Siedlung Tubiacanga zu den Fischerbooten führt. Seit mehr als 40 Jahren ist er hier im Norden von Rio de Janeiro zu Hause. Seitdem er zehn Jahre alt ist, fischt er in der Guanabara-Bucht. "20.000 Fischer gibt es hier noch, und von denen hat jeder drei bis vier Kinder zu versorgen. Durch den Rückgang der Fischpopulation kann aber nicht mehr jeder hier vom Fang leben", klagt dos Santos.
Der Grund für den Fischrückgang schlägt jedem entgegen, der sich nur ein paar Schritte auf den Steg wagt: Es stinkt nach Fäkalien und Müll, im Wasser schwimmen Plastikflaschen, Schuhe, ja sogar ganze Möbelstücke. Der Schlick: eine übel riechende, verdreckte Masse. Das Panorama zur Bucht hin dominieren die Schornsteine der angrenzenden Ölraffinerien und das Häusermeer von Rio - die Millionenstadt, die ihre Abwässer wie selbstverständlich in die Bucht fließen lässt. 18.000 Liter pro Sekunde sind es, um genau zu sein. "Viele Fischer arbeiten nebenbei als Kellner, um etwas dazuzuverdienen", berichtet dos Santos. Er selbst baut Holzkisten und bessert damit seine Kasse auf.
Auch die Schwerindustrie lagert seit Jahrzehnten ihre hochgiftigen Abfälle in der Bucht. Der Schlick in 32 Metern Tiefe ist von Schwermetallen verseucht, das Wasser von multiresistenten Keimen verseucht. Beim Bruch einer Pipeline im Januar 2000 flossen zudem mehr als eine Million Liter Öl in die Bucht und in das Bioreservat der angrenzenden Mangrovensümpfe. Viele Anwohner warten bis heute auf Entschädigungszahlungen durch den halbstaatlichen Ölbetrieb Petrobras.
Sportler fürchten um ihre Gesundheit
Die Guanabara-Bucht, die zu Deutsch den schönen Namen "Brust des Meeres" trägt, dient Rio de Janeiro gleichzeitig als Kloake, Mülldeponie und Altöllager. Trotzdem: Kein Grund für das Internationale Olympische Komitee (IOC), hier nicht die Segelwettbewerbe der anstehenden Sommerspiele stattfinden zu lassen.
Der deutsche Segler Erik Heil erkrankte 2015 nach einer Testregatta auf der Bucht, hatte Entzündungen an Beinen und Hüfte, die erst in Berlin durch die Gabe eines Breitbandantibiotikums abheilten. Viele Sportler haben Bedenken, in das Wasser der Bucht zu steigen, wollen auf jeden Fall Hautkontakt mit dem Wasser meiden.
Heiko Kröger, der im Jahr 2000 bei den Paralympics Gold im Segeln gewann, kritisierte das IOC scharf: "Wenn ich sie wäre, könnte ich nicht mehr schlafen", sagt er an IOC-Präsident Thomas Bach gerichtet. Zumal Experten davon ausgehen, dass die Bakterien in der Bucht noch schlimmere Krankheiten auslösen könnten als bei Erik Heil: Eine Hirnhautentzündung ist bei der Bakteriendichte, wie sie etwa der Meeresbiologe Mario Moscatelli gemessen hat, nicht auszuschließen. "Auf jeden Fall sollten sich die Sportler gegen Hepatitis A impfen lassen, bevor sie in Rio starten", sagt Moscatelli, der seit vielen Jahren die Zustände in der Bucht anprangert.
Auch Sérgio Ricardo beschäftigt sich seit Jahren mit dem Umweltskandal an der Guanabara. "Viva la Baía", zu Deutsch "Es lebe die Bucht", steht auf dem T-Shirt des Ökologen. Leben sei auch nach wie vor in der Bucht zu finden, sagt er, dank eines kleinen Zustroms Frischwasser aus dem Atlantik. "Wir nennen das das 'Wunder von Guanabara'. Es gibt hier alle Arten außer Wale", sagt Ricardo. Andererseits würden die Abwässer und die rund 100 Tonnen Müll, die hier täglich anlanden, das Leben immer weiter zerstören.
Mit einem Boot fährt Ricardo die Bucht rauf, um das ganze Ausmaß der Zerstörung zu demonstrieren - und um zu zeigen, dass alle Bemühungen, die Bucht zu säubern, bislang gescheitert sind. Auf diese Maßnahmen nämlich verweist das IOC gerne, wenn die Olympiavergabe an Rio mit Verweis auf die Guanabara kritisiert wird.
Zuletzt hatte der Bundestaat Rio versprochen, die Bucht für Olympia zu säubern - vergeblich. Schon mehrmals war das versucht worden: Zwischen 1994 und 2006 investierte der Bundesstaat, unterstützt von der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der japanischen Agentur für Internationale Zusammenarbeit, mehr als eine Milliarde Euro in den Bau von Kläranlagen.
Das Unfassbare dabei: Die meisten Zuleitungen wurden beim Bau vergessen und fehlen bis heute. Der Großteil des Wassers fließt weiter ungeklärt in die Bucht. Die sechs gebauten Anlagen verrotten derweil. "Das Programm hatte kaum Effekte", sagt Ricardo, "stattdessen setzt die Regierung auf kosmetische Maßnahmen - zum Beispiel Boote, die den Müll aus dem Wasser fischen."
Geldverschwendung auf Brasilianisch
Im Jahr 2013 wurde ein zweites Programm für die Säuberung aufgelegt: Mehr als 200 Millionen Euro nahm man in die Hand, aber auch hier versickerte viel Geld. Unter anderem wurden Haushalte zwar an Kanalisationssysteme angeschlossen, diese endeten aber nicht in einer Kläranlage. Mehrere Institutionen auf kommunaler, regionaler und auf Bundesebene waren am Projekt beteiligt - durch Bürokratie und Korruption aber wurde viel Geld verbrannt.
Experten wie Sérgio Ricardo sind sich ohnehin sicher, dass die Säuberung der Bucht ein Langzeitprojekt ist, und dass rund 20 Jahre ins Land gehen müssten, um etwas zu bewirken. Die "Schnellhilfe" im Zuge von Olympia habe gar nichts gebracht. "Kanäle und Lagunen müssten gebaut werden", sagt Ricardo. Und die stillgelegte Müllkippe in der Nähe der Bucht sei zu beseitigen. "Zusammen mit dem Müll, der aus Rio zugeleitet wird, ist sie der Molotowcocktail der Bucht", sagt der Ökologe.
Nicht ausgeschlossen ist, dass die Erdölindustrie in den kommenden Jahren weiter in der Bucht bohren wird - noch immer schlummern in rund 7000 Metern Tiefe im Boden hohe Vorkommen. Die brasilianische Wirtschaft ist vom Rohstoffhandel abhängig. Ob dann Filtertechnik überhaupt noch ausreicht, um die intensive industrielle Nutzung auszugleichen, ist fraglich.
Keine Besserung durch Olympia
"Wir hatten die Hoffnung, dass sich durch Olympia etwas bessert, aber nichts ist passiert", sagt Fischer Alex Sandro dos Santos. "Die Hoffnung ist gleich null." Deshalb findet er es wichtig, dass die übriggebliebenen Fischer ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Dos Santos hat die "Fischbeobachtungsstelle Guanabara" gegründet. Sie zeigt die Missstände an der Bucht auf und regt alternative Programme für die Fischer an - zum Beispiel die Fischaufzucht in ehemaligen Erdöltanks.
Trotz Müll, Öl und Schwermetallen ist für ihn eins klar: "Der Fisch aus der Bucht landet weiter auf dem Teller, trotz der Debatten", sagt er, und der Stolz und die Überzeugung sind dem 48-Jährigen anzusehen. Krank geworden sei er noch nicht. "Ich habe eine Gesundheit aus Stahl", fügt er mit einem Lachen hinzu. Einen Tipp hat er zum Abschied noch: Den Guanabara-Fisch sollte man am besten zusammen mit einem kühlen Bier genießen.