Ein bisschen Athleten-Meinung darf sein
22. Juli 2021Ein Reförmchen, keine Reform in Sachen mündige Athletinnen und Athleten ist das, was das Internationale Olympische Komitee im Vorfeld der Olympischen Spiele von Tokio verkündete. "Sie sagen, sie hätten die Regeln geändert, haben es aber nicht wirklich getan", kritisiert Rob Koehler, Chef des internationalen Bündnisses "Global Athletes", die IOC-Richtlinien für Tokio.
Das IOC sieht das natürlich ganz anders. Die Richtlinien böten den Startenden "weitere Klarheit und Orientierungshilfe zu den vielfältigen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, um ihre Meinung zu äußern, auch auf dem Spielfeld vor Beginn des Wettkampfs", teilte das IOC mit.
Die Sportlerinnen und Sportler dürfen sich bei den Spielen in Tokio in den Interviewzonen der Wettkampfstätten, bei Pressekonferenzen, in Interviews, bei Teamsitzungen oder auch über die sozialen Netzwerke politisch äußern. Am Wettkampfort selbst sind politische Äußerungen und Gesten nur erlaubt, sofern sie "sich nicht direkt oder indirekt gegen Menschen, Länder, Organisationen und/oder deren Würde richten" und "nicht störend sind", z.B. bei der Vorbereitung anderer Athleten oder Mannschaften auf den Wettkampf.
Ein Kniefall von Fußball-Teams, um gegen Rassismus zu protestieren, wie jüngst vor einigen Spielen der Fußball-Europameisterschaft praktiziert, ist also auch bei den Olympischen Spielen in Tokio möglich. Als einige Frauenfußball-Teams bei ihren Auftaktspielen des olympischen Turniers auf die Knie gingen, war dies auf den Social-Media-Kanälen des IOC allerdings nicht zu sehen. Erst nachdem es Kritik dafür hagelte, lenkte das IOC ein. "Solche Momente werden auch einbezogen", kündigte die olympische Organisation an.
Einige Bereiche bleiben tabu
Untersagt bleiben politische Äußerungen während der Medaillenübergabe, bei der Eröffnungs- und der Schlussfeier der Spiele sowie im Olympischen Dorf. Verboten sind damit weiterhin Aktionen wie jene des 200-Meter-Olympiasieger 1968 in Mexiko, Tommie Smith, und des Bronzegewinners John Carlos. Die beiden schwarzen Sprinter hatten bei der Siegerehrung die Faust gereckt, um ihre Unterstützung der damalige "Black Power"-Bewegung zu zeigen. Sie hatten daraufhin die Spiele verlassen müssen.
Auch wenn sich eine Athletin oder ein Athlet beim Einzug der Nationen während der Eröffnungsfeier in Tokio in eine Regenbogenfahne hüllen würde, um gegen sexuelle Diskriminierung zu protestieren, müsste sie oder er wahrscheinlich mit Sanktionen durch das IOC rechnen, mindestens aber mit einem Disziplinarverfahren.
Große Mehrheit?
Der "Schutz" der Wettkämpfe, der Zeremonien und des Olympischen Dorfes sei auch "der Wunsch einer großen Mehrheit der Athletinnen und Athleten in unserer weltweiten Umfrage gewesen", sagte Kirsty Coventry, die Vorsitzende der IOC-Athletenkommission. Die 37-Jährige gewann als Schwimmerin bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen und 2008 in Peking insgesamt zweimal Gold, viermal Silber und einmal Bronze und ist heute Sportministerin ihres Heimatlandes Simbabwe. An der Umfrage der Athletenkommission hatten sich nach Angaben des IOC mehr als 3500 Sportlerinnen und Sportler aus 185 Staaten beteiligt.
Grundlage des politischen Maulkorbs bei Olympischen Spielen ist die umstrittene Regel 50.2 der Olympischen Charta. "Keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda ist erlaubt an allen olympischen Stätten, Austragungsorten oder in anderen Bereichen", heißt es darin. Unabhängige Athletenvertretungen fordern seit langem die komplette Abschaffung dieser Regel. Dies hat das IOC abgelehnt.
"Black Lives Matter" nicht unter "empfohlenen" Werten
Enttäuscht äußerte sich Maximilian Klein von "Athleten Deutschland". Die Organisation vertritt mehr als 1000 Kader-Athletinnen und Athleten in Deutschland. "Die vermeintlichen Lockerungen der Regel 50 bleiben weit hinter unseren Erwartungen zurück", sagte Klein der DW. "Sie gehen weiterhin am Kernproblem der pauschalen Einschränkung der Meinungsfreiheit vorbei. Statt diese Grundproblematik angemessen aufzulösen, bestimmt das IOC über Ort und Zeitpunkt von Meinungsäußerungen."
Die IOC-Athletenkommission habe sogar inhaltliche Vorgaben unterbreitet, zu welchen Werten sich Sportlerinnen und Sportler in Tokio bekennen sollten. Sie habe Begriffe empfohlen, die auf die Olympia-Kleidung gedruckt werden könnten: Frieden, Respekt, Solidarität, Inklusion, Gleichberechtigung. "Black Lives Matter" etwa, so Klein, wäre als Botschaft beim IOC nicht willkommen: "Diese Entmündigung der Athleten offenbart, dass das IOC 'politischer Neutralität' höheren Wert beimisst als den Menschenrechten von Athleten."