Brexit-Brief nach Brüssel: Das Europa meiner Kinder
1. Juli 2016
Sehr geehrter Herr Kommissionspräsident,
lieber Jean-Claude Juncker,
zunächst mein Beileid zum Brexit. Aber kennen Sie das Lied "Davon geht die Welt nicht unter?" Zarah Leander hat es einst gesungen in dem sehr populären Nazi-Film "Die große Liebe". Das war 1943. Kurz darauf ging die Welt unter. Europa lag in Trümmern. Gestern nun, nur wenige Tage nach dem Brexit, fragte mich meine 16-jährige Tochter: "Brauchen wir eigentlich noch die Europäische Union?". Und ich sage Ihnen, Herr Juncker: Ja, aber nur, wenn es das Europa meiner Kinder ist.
Mein europäischer Traum geht so: Die Kinder haben ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Sie gehen zur Schule. Sie können sagen, was sie möchten und ihre Religion wählen. Niemand greift sie an, weil sie klein, schwul oder behindert wären. Vor Gericht haben sie das gleiche Recht wie jeder andere. Vor Krieg haben sie keine Angst, auch nicht vor der Polizei. Nun leben meine Kinder im reichen Deutschland. Aber sollte ein rumänisches Roma-Kind nicht auch so ein schönes Leben haben? Und was ist erst in der Zukunft?
Wo ist Ihre Europa-Vision?
Meine Tochter hat in der Schule gelernt, aus welchem Trümmerfeld das neue Europa gewachsen ist. Wie es sich zusammengerauft hat, zunächst wirtschaftlich, später auch politisch. Wie es sich immer weiter ausdehnte, zuletzt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Denn Europa war ein strahlendes Zukunftsversprechen: Demokratie, Wohlstand, Frieden, dieser Dreiklang verzauberte die Menschen. Doch irgendwann verblasste die Idee, geriet das Projekt ins Stocken. Können Sie, Herr Juncker, meiner Tochter bitte erklären, was da schief gelaufen ist? Nach dem Brexit der Briten beklagen Sie die Europa-Erosion. Doch mit welcher Europa-Vision wollen Sie sie stoppen?
Ja, die Briten wollten den EU-Ausstieg. Aber verbirgt sich hinter diesem Votum, bei dem die Alten die Jungen überstimmten, nicht eigentlich die Angst vor Überfremdung, vor sozialem Abstieg, vor Fremdbestimmung, vor dem Verlust der eigenen Identität? Ein bürokratisiertes, undemokratisches Europa, das in Hinterzimmern Entscheidungen über die Köpfe der Leute hinweg trifft, überzeugte nicht als Gegenentwurf. Die Fallhöhe zwischen Versprechen und Wirklichkeit war zu hoch. Die Briten setzen deshalb lieber auf eigene Stärken. Vielleicht überschätzen sie sich. Aber überschätzt sich nicht auch Europa, wenn es weiter macht wie bisher?
Im Europa meiner Kinder dürften alle Wähler mitreden. Es würde viel demokratischer zugehen. Es gäbe Wahlen nicht nur in den Regionen und in den Ländern, sondern auch zu einer europäischen Regierung. Es wäre ein föderaleres Europa, das auf Mitsprache gründet. Meine Kinder könnten sagen: "Hier bestimme ich mit." Meine Kinder fühlten sich stark, weil sie um die Macht des europäischen Binnenmarktes wüssten. Ihre Angst vor der Globalisierung hielte sich in Grenzen. Sie hätten verstanden, dass nur die Einheit Europas das Überleben im globalen Wettbewerb sichert und Sicherheit gewährt. Isolierte Nationalstaaten kommen weder gegen China noch gegen Google an.
Mit welchem Argument bringe ich meine Tochter dazu, ihren Geschwistern von ihren Süßigkeiten abzugeben? Wie überzeuge ich sie davon, Platz in ihrem Kinderzimmer zu machen, wenn das Haus der Nachbarn abgebrannt ist? Es ist wie in der Griechenland- oder der Flüchtlingskrise: Europa braucht mehr Teilhabe, mehr Solidarität und weniger nationalen Eigennutz.
Meine Tochter liebt die Vielfalt
Das Europa meiner Kinder wäre wieder das Europa der Regionen. Da gäbe es 1000 Käse-Sorten in Frankreich. Da könnte man die italienische Banane kaufen, deren Krümmung keiner EU-Norm genügt. Da zapften Kellner in Köln – und nur da - ihr berühmtes obergäriges Kölsch-Bier und tanzen die andalusischen Frauen ihren feurigen Flamenco. Die Vielfalt regionaler Traditionen, Bräuche und Kulturen ist unbezahlbar. Wer diesen Schatz hebt und schützt, wer das Heimatgefühl der Menschen stärkt, der gibt ihnen den Glauben an Europa zurück. Meine Tochter würde überall hinfahren. Sie wird es lieben.
Vielleicht studiert sie in Bologna Italienisch oder Spanisch in Madrid. Nach der Hochschulreform sind die Studienabschlüsse europaweit die gleichen. Mit Bachelor oder Master könnte sie überall auf Jobsuche gehen. Doch die Kehrseite der Medaille ist weniger schön: Seither geht es an den Unis verschulter zu. Viele Fächer sind mit Stoff überladen. Es gibt weniger akademische Freiheiten. Auch das Beispiel zeigt: Zwischen Reglementieren und Nicht-Reglementieren verläuft ein schmaler Grat. Damit die Gratwanderung nicht ins Abseits führt, muss sie überdacht werden.
Eigentlich, lieber Herr Juncker, ist all dies gar nicht Ihre Sache. Sie regieren und verwalten den Kontinent wie die ungekrönten Könige von Europa, dieses Zerrbild von Europa geistert durch die Köpfe der Menschen zwischen Malta und Finnland. Aber vielleicht sorgen Sie jetzt für mehr Demokratie. Dann könnten unsere Kinder eines Tages aus vollem Herzen sagen: "Europa ist meine Zukunft!"
Mit schönen Grüßen,
Ihr Stefan Dege
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Stefan Dege ist Kulturredakteur der Deutschen Welle. Der studierte Politologe ist Vater dreier Kinder.