Rätselraten um Kims Strategie
6. September 2017Kim Jong Un würde niemals Krieg führen. Das galt - trotz aller Besorgnis - im Westen bisher als sicher. Das Kalkül des nordkoreanischen Diktators sei, so die Ansicht der meisten Politiker und Sicherheitsexperten, dass ihm die bloße Existenz von Atomwaffen eine Position der Stärke verschaffe und ihm so das politische Überleben sichere.
Inzwischen macht ein neuer Gedanke die Runde: Was, wenn Kim zwar nicht die USA angreift, was wohl unweigerlich einen atomaren Gegenschlag auslösen würde, sondern wenn er die USA dazu bringt, abseits zu stehen, damit er Südkorea einnehmen kann?
Der Sicherheitsexperte Thomas Wright von der Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution meint: "Kims Ambitionen scheinen größer als bloßes Überleben zu sein. Er ist ein junger Mann, der glaubt, dass er weitere 40 Jahre an der Macht bleiben wird. Er scheint zu glauben, dass Langstreckenraketen die Machtbalance in der Region grundlegend ändern werden, indem sie die USA zum Abzug aus Südkorea zwingen. Und", fügt Wright hinzu, "er könnte damit Recht haben."
Bereits Anfang Juli sagte Christopher Hill, ehemaliger US-Botschafter und Nordkorea-Unterhändler von 2005 bis 2009, im amerikanischen Sender PBS, wenn Nordkorea die USA und damit die amerikanische Zivilbevölkerung treffen könne, hoffe das Regime offenbar, "die USA zu überzeugen, dass sie ihre Bündnisverpflichtungen mit Südkorea nicht wahrnehmen". Es gebe die Vorstellung bei den Nordkoreanern, sie könnten die Halbinsel nach ihren Bedingungen wiedervereinen, wenn man die USA aus dem Spiel heraushalten könnte.
Die Möglichkeiten für eine Invasion des Südens habe Nordkorea allemal, auch ohne Atomwaffen, erläuterte Hill: "Wenn man sich ihre Waffen direkt an der Front ansieht, ihre chemischen und biologischen Waffen, die Tatsache, dass etwa 14.000 Artilleriegeschützrohre direkt an der Front auf die südkoreanische Zivilbevölkerung gerichtet sind, dann sieht das doch nach einer sehr auf Angriff ausgerichteten Streitmacht aus."
Die USA isolieren sich
Den Vorschlag Chinas und Russlands, dass die USA und Südkorea ihre Militärmanöver beenden und Nordkorea als Gegenleistung sein Atom- und Raketenprogramm einfriert, um Verhandlungen zu beginnen, hat die amerikanische UN-Botschafterin Haley als "frech" zurückgewiesen. Auch Präsident Trump steht bisher zu den US-Bündnisverpflichtungen gegenüber Südkorea und Japan. Statt auf Nordkorea zuzugehen, drohte er dem Land "Feuer und Wut" an.
Doch Kim Jong Un dürfte auch andere Stimmen vernommen haben. Trumps früherer Chefberater Steve Bannon zum Beispiel hat zwei Tage vor seinem Rauswurf dem Magazin "The American Prospect" ein aufschlussreiches Interview gegeben. Darin spricht sich Bannon für einen Abzug der fast 30.000 US-Soldaten aus Südkorea aus, wenn Nordkorea sein Atomprogramm einfriere und Inspektionen zulasse.
Bannon ist zwar entlassen. Aber Thomas Wright glaubt, Trumps "Amerika-zuerst"-Politik passe sehr gut in Kims Kalkül, weil sie isolationistisch sei: "Mit einer 'Amerika-zuerst'-Außenpolitik werden die Vereinigten Staaten ihre eigene Sicherheit nicht für die ihrer Verbündeten riskieren. Die Tage des Kalten Krieges, als die USA New York geopfert hätten, um West-Berlin oder Paris zu retten, sind vorbei." Ein Abzug aus Südkorea stehe zwar nicht heute auf der Tagesordnung, aber vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren.
Vorbild Iran-Verhandlungen?
Sollte sich Washington auf einen solchen Kuhhandel einlassen, hätte das Wright zufolge katastrophale Folgen für ganz Nordostasien. "Die Gefahr eines neuen Koreakrieges würde wachsen. Japan und Südkorea würden Nuklearmächte werden. Und Nordkorea würde das Abkommen sehr wahrscheinlich unterlaufen und sein atomares Langstreckenprogramm fortsetzen, so dass Pjöngjang amerikanische Hilfe für Südkorea und Japan abwehren könnte."
Wright rät Washington, sein militärisches Engagement in der Region eher noch zu verstärken und sich von einer Einhegung Nordkoreas nicht abbringen zu lassen, "selbst wenn das das eigene Land in Gefahr bringt".
Der UN-Experte Andreas Zumach bestreitet unterdessen, dass Nordkorea um Krieg bettele, wie es Nikki Haley, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, am Montag vor dem Sicherheitsrat gesagt hatte. Der Deutschen Welle sagte er: "Ich glaube, Pjöngjang bettelt nicht um Krieg, sondern um Washingtons Anerkennung."
Viele bei den Vereinten Nationen, so Zumach, sähen ein Vorbild zur Lösung des Nordkorea-Konflikts im Umgang der USA mit dem Iran unter Barack Obama. 2014 habe die Obama-Regierung nach 30 Jahren Sanktionen und völliger Isolierung des Iran geheime Verhandlungskanäle eröffnet, dann offen verhandelt und das iranische Atomproblem schließlich gelöst. So, meint Zumach, müsse es nun Donald Trump mit Nordkorea machen.
Dass auch andere, weit entfernt liegende Länder ein Interesse an einer Lösung haben, machte die französische Verteidigungsministerin Florence Parly klar. "Europa läuft Gefahr, schneller als erwartet in Reichweite von Kim Jong Uns Raketen zu geraten", sagte Parly vor französischen Soldaten. Der Druck auch auf die Europäer, sich in die Bemühungen einzuschalten, nimmt zu.