Nord Stream 2: Heftige Kritik am Erdgas-Kompromiss
22. Juli 2021Die deutsch-russische Erdgaspipeline Nord Stream 2 ist für die meisten Länder Mittel- und Osteuropas nicht einfach nur ein umstrittenes Projekt. Sie sehen darin vielmehr eine Art Gradmesser für die Glaubwürdigkeit deutscher Politik in der Region. Dabei geht es vor allem für die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten, aber auch für andere Länder der Region wie beispielsweise Rumänien, um die Frage, ob Deutschland seine Kritik an der mehr und mehr aggressiven Außenpolitik Russlands unter Präsident Wladimir Putin ernst meint - oder ob deutsche Wirtschaftsinteressen am Ende schwerer wiegen als ein entschiedenes Auftreten gegenüber dem Kreml.
Mit der deutsch-amerikanischen Einigung im Streit um Nord Stream 2 ist die Glaubwürdigkeit deutscher Politik aus Sicht mittel- und osteuropäischer Staaten nun so schwer erschüttert wie seit langem nicht mehr. Vor allem die Ukraine und Polen äußerten heftige Kritik an der deutsch-amerikanischen Abmachung, die den Weg für die Inbetriebnahme der Pipeline freimacht. Die Entscheidung, sich dem Bau von Nord Stream 2 nicht mehr zu widersetzen, so heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme der Außenminister beider Länder, Dmytro Kuleba und Zbigniew Rau, "hat politische, militärische und energetische Bedrohungen für die Ukraine und Mitteleuropa geschaffen und Russlands Möglichkeiten gestärkt, Europas Sicherheitslage zu destabilisieren". Andrij Jermak, der Kanzleichef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sagte seinerseits, Nord Stream 2 sei eine geopolitische Waffe Russlands, die der Kreml sicher auch gegen die Ukraine und gegen Europa einsetzen werde.
Tatsächlich droht der Ukraine durch Nord Stream 2 nicht nur der Ausfall von Milliardensummen, die als Gebühren für die Durchleitung russischen Gases nach Europa fällig sind. So zumindest sieht es die Politologin und Direktorin des Instituts für Demokratie und Entwicklung "PolitA" in Kiew, Jekaterina Odartschenko. Sie sagte der DW, wenn Russland den Gastransit einmal gestoppt habe, würde es sich auch nicht mehr dabei zurückhalten, die ukrainischen Gaspipelines zu beschädigen; auf diese Weise würde eine Kriegsgefahr für die Ukraine spürbar ansteigen. "Diese Umstände können sich entscheidend auf das Tempo unserer Integration in die Nato und die EU auswirken. Wenn wir durch die Abmachung zwischen Washington und Berlin militärisch schon ins Hintertreffen geraten, muss man uns auch Waffen liefern, und wir müssen auch Zugang zu zinsgünstigen europäischen Krediten und Fonds bekommen", fordert Odartschenko.
Der Exekutivdirektor des ukrainischen Unternehmens Naftogaz, Juriy Witrenko, glaubt nicht an deutsche Sicherheitsgarantien dafür, dass der Transit von russischem Gas durch die Ukraine auch weiterhin erfolgen werde. "Die Ukraine ist bereits das Ziel russischer militärischer Aggressionen", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme Witrenkos. "Wenn es keinen Gastransit mehr durch die Ukraine gibt, steigt das Risiko einer militärischen Offensive Russlands beträchtlich. Solange Moskaus militärische Aktionen nicht den europäischen Verbrauchern schaden, braucht Russland nichts weiter zu befürchten, als dass Europa seine tiefe Besorgnis über die Ereignisse in der Ukraine ausdrückt."
In Polen äußerte sich nach der deutsch-amerikanischen Vereinbarung vom Mittwoch auch der Regierungssprecher Piotr Müller in scharfer Form. "Wir haben von Anfang an betont, dass Nord Stream 2 ein geopolitisches Projekt ist, das die politische Situation in Mittel- und Osteuropa destabilisiert", so Müller gegenüber Journalisten. "Polen stimmt dem nicht zu." Die polnische Regierung sei "überrascht" von der deutsch-amerikanischen Einigung, Deutschland verfolge "leider die Interessen Russlands", so Müller. Leider habe es keine angemessene Antwort der EU darauf gegeben.
Der Energieexperte Robert Tomaszewski vom Warschauer Institut Polityka Insight sagte der DW, Polen werde seine Position zu Nord Stream 2 wahrscheinlich mit Kiew koordinieren, zugleich sei eine weitere Abkühlung der Beziehungen zu den USA und Deutschland zu erwarten. "Ich denke, das schwierigste Thema für Polen ist derzeit die Angst, dass Zugeständnisse aus den USA Russland ermutigen könnten, gegenüber der Ukraine und der gesamten mittelosteuropäischen Region eine noch aggressivere Politik zu verfolgen", so Tomaszewski.
In den baltischen Staaten äußerten sich Regierungspolitiker bisher noch kaum zu der deutsch-amerikanischen Einigung im Nord-Stream-Streit vom Mittwoch. Allerdings haben sich Litauen, Lettland und Estland ebenso wie die Ukraine und Polen in der Vergangenheit immer wieder klar gegen das Pipeline-Projekt ausgesprochen - wenn auch in weniger scharfer Form als die Kiew und Warschau.
In der vergangenen Woche bezeichnete die litauische Regierungschefin Ingrida Simonyte Nord Stream 2 als "Fehler". Das Hauptproblem des Projekts seien dabei nicht unbedingt die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Ukraine, sondern der Umstand, dass es die Abhängigkeit der EU von einem Land erhöhe, in dem es keine Rechtsstaatlichkeit gebe. Auch die estnische Regierungschefin Kaja Kallas verlangte in den vergangenen Monaten mehrfach, dass Europa Nord Stream 2 wegen der immer stärkeren innenpolitischen Repressionen in Russland stoppen müsse, denn diese seien auch für Europa ein Sicherheitsrisiko.
Der litauische Politologe Valentinas Berziunas von der Universität Vilnius kritisiert in einem Meinungsbeitrag für das Portal Delfi, dass sich sein Land in den vergangenen Monaten nicht stark genug gegen Nord Stream 2 positioniert habe. "Es ist an der Zeit", so Berziunas, "dass die Staats- und Regierungschefs der mitteleuropäischen Länder oder zumindest die Präsidenten Litauens und Polens sich zusammensetzen und ernsthaft darüber nachdenken, was unsere Region erwartet, wenn wir Russland weiterhin erlauben, Einflusssphären mit Deutschland zu teilen. Es hat uns in der Vergangenheit sehr weh getan und es wird sicher auch jetzt sehr weh tun."
Mitarbeit: Alexander Sawizkij und Jo Harper.