Nizza steht nach dem Anschlag unter Schock
30. Oktober 2020Ein junger Mann mit Zopf steht vor der Basilika Notre-Dame in Nizza, einen der weißen iPhone-Kopfhörer noch im Ohr und starrt geradeaus. Es scheint, als könne er kein Wort herausbringen. Nur soviel: "Ich kann nicht fassen, was gerade in Frankreich passiert." Dann läuft er weg.
Wie ihm geht es vielen in dem Land, das schwer von der COVID-19-Krise getroffen ist, das nun mit einem zweiten Lockdown klar kommen muss. Und das, vor allem, erneut von einem mutmaßlich islamistischen Anschlag erschüttert wurde.
Er galt diesmal der größten Kirche in der südfranzösischen Stadt. Ein mit einem Messer bewaffneter Angreifer tötete am Donnerstagmorgen drei Menschen. Zweien durchschnitt er die Kehle, eine Frau starb etwas später an ihren schweren Verletzungen.
Eine Tat, die wütend macht. Zwei Frauen, die am Tag nach dem Anschlag zusammen mit einigen anderen Menschen vor der Kirche stehen, zeigen ihre Wut besonders deutlich.
"Wir haben keine Angst"
Lucienne und Patrice - ihre Nachnamen wollen sie für sich behalten - schreien fast und fallen sich gegenseitig ins Wort, als sie schildern, wie sie den Anschlag erlebt haben. Beide wohnen in der Nähe der Kirche, beide sind gläubige Katholikinnen, beide wollten eigentlich zu diesem Zeitpunkt dort beten. Doch unerwartet sei ein Telefonanruf dazwischengekommen, sagt Lucienne. Irgendwann habe sie Schüsse gehört und Sirenen. Danach kamen die Tränen und die Schlaflosigkeit. "Aber ich habe keine Angst. Niemals", sagt Lucienne. "Wir lassen uns doch nicht einschüchtern! Das macht uns stärker."
Trotzdem fordern Lucienne und Patrice, Kirchen stärker zu schützen. Ein paar Meter weiter stimmt Renée Rose Flores mit ihnen überein. Doch sie geht noch einen Schritt weiter: "Unsere Grenzen sind durchlässig wie Siebe", sagt sie. Frankreich müsse besser kontrollieren, wer ins Land darf. Sie spielt damit darauf an, dass der Attentäter erst vor kurzem in Frankreich angekommen sein soll. Der 21-jährige Tunesier war Ermittlungen zufolge im September über Lampedusa nach Europa gelangt.
Dass Frankreich nur knapp zwei Wochen nach dem brutalen Mord an dem Lehrer Samuel Paty in der Nähe von Paris erneut von einem Terroranschlag getroffen wird, bestürzt hier viele. Besonders in Nizza, einer Stadt, deren Bewohner wissen, wie es sich mit der Angst vor und nach dem Terror lebt. "Es ist das dritte Mal seit 2015, dass Nizza attackiert wird", sagt Philippe Pradal, Mitglied der konservativen Republikaner und stellvertretender Bürgermeister der Stadt, im Gespräch mit der DW.
2016 raste ein Attentäter mit einem Lkw in eine Menschenmenge auf der Promenade des Anglais und tötete 86 Menschen. 2015 hatte ein Angreifer drei französische Soldaten vor einem jüdischen Zentrum attackiert.
Dass jetzt eine Kirche der Tatort war, sei kein Zufall gewesen, sagt Pradal. "Diese Anschläge haben bei den Menschen in Nizza für großes Leiden und großen Schmerz gesorgt."
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte schon am Donnerstag vor Ort verkündet, das ganze Land sei "angegriffen worden". Infolge des Anschlags rief die französische Regierung die höchste Terrorwarnstufe aus.
Drei Kerzen für die drei in Nizza ermordeten Menschen
Zurück vor der Notre-Dame Basilika fragt Hedi Khediri die zwei Polizisten hinter der Absperrung, ob er drei weiße Kerzen mit ihrem Wachs an das Gitter kleben darf. Es dauert eine Weile, bis alle drei angezündet sind und haften bleiben. Der 31-Jährige ist in Frankreich geboren, seine Eltern kommen aus Tunesien, unweit von dem Ort, aus dem der mutmaßliche Attentäter stammt, sagt er. Er sei Muslim, sehr gläubig, aber das, was hier passiert sei, mache ihn fertig.
Was ihn zudem fertig mache: Zwei ältere Menschen, die ihm auf dem Weg von der Arbeit zur Basilika hinterher gerufen hätten: "Alle, die keine Christen sind, sollen das Land verlassen." "Ich bin Franzose, ein ganz normaler Mann, wie alle anderen auch", sagt Khediri und zieht seine Maske wieder über die Nase, die ihm beim Sprechen verrutscht ist. Danach bleibt er noch eine Weile stehen, redet weiter. Er hat Gesprächsbedarf in diesen schwierigen Tagen.
Vor der Kirche findet jetzt eine kleine Zeremonie statt. Große Blumengestecke werden drapiert, eine Schweigeminute abgehalten, danach wird die französische Nationalhymne "Marseillaise" gesungen. Ein paar Abgeordnete sind da, Trauernde, Kirchenvertreter. Unter ihnen Philippe Asso, bei der Diözese Nizza für interreligiösen Dialog zuständig. Man dürfe auf keinen Fall eine politische Ideologie gleichsetzen mit dem Islam, sagt er. "Muslime in aller Welt und in Frankreich sind das erste Ziel von Islamisten."
Asso sagt auch, wie sehr ihn dieser Anschlag auf unschuldige Menschen in einer Kirche verletzt habe. Aber: "Ich bin fest entschlossen für noch engere Kontakte zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften zu kämpfen, in einer Welt, die sich seit Langem und immer mehr spaltet."