"Brutale Vollbremsung" in Frankreich
29. Oktober 2020"Das Virus verbreitet sich schneller, als wir es für möglich gehalten hätten", sagt der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an die Nation, mit der er sein Land zurück in die Quarantäne schickt. In eher analytischem Ton, ohne große Emotionen oder Pathos, appelliert der Präsident an sein Volk, auch bei dieser zweiten Runde der extremen Einschränkungen mitzumachen. "Es kommt auf jeden von Euch an."
Brutale Vollbremsung
Von Donnerstagnacht an werden in Frankreich alle nicht-essentiellen Läden sowie Restaurants und öffentliche Einrichtungen erneut für vier Wochen geschlossen. Nur die Schulen bleiben geöffnet, die Universitäten müssen virtuell unterrichten. Kultur- und Sportveranstaltungen mit Publikum werden verboten. Die Franzosen dürfen wie schon im Frühjahr nur noch für notwendige Erledigungen das Haus verlassen und müssen wieder Bescheinigungen ausfüllen, wenn sie zur Arbeit oder einkaufen gehen wollen. Es darf keine Familientreffen geben, keine Feste. Vor allem in den Großstädten finden sich die Menschen wieder in ihren engen Wohnungen und in einem Umkreis von einem Kilometer vom Wohnort eingesperrt.
Heimarbeit soll die Regel werden, große Fabriken allerdings weiterproduzieren, ebenso wie die Landwirtschaft - die Einzelheiten der erneuten Einschränkungen wird am Donnerstag erst der Premierminister bekannt geben. Aber schon aus Macrons Rede wird klar, dass sie fast wieder so umfassend sein werden wie im Frühjahr. Denn alles was man in den vergangenen Monaten versucht habe, von der Maskenpflicht bis zuletzt einer nächtlichen Ausgangssperre, sei nicht ausreichend gewesen, so der Präsident. Andererseits solle die Wirtschaft "nicht zum Stillstand kommen". Wie das funktionieren soll, ist noch nicht erkennbar.
Macron räumt offen ein, dass auch seine Regierung von der Geschwindigkeit überrollt wurde, mit der das Virus sich ausbreitet. Alle seien davon erstaunt und die Experten befürchteten, "dass die zweite Welle schlimmer und tödlicher" werde als die erste. Deswegen habe er sich jetzt für eine "brutale Vollbremsung" entschieden, um den Anstieg der Erkrankungen zu unterbrechen.
Katastrophale Zahlen
In den vergangenen Tagen wurden in Frankreich jeweils zwischen rund 30.000 und mehr als 50.00 Neuinfektionen registriert, allein am Dienstag mussten über 2800 Corona-Patienten in die Krankenhäuser eingewiesen werden, so die öffentliche Statistik. Wenn die Zahlen ungebremst ansteigen, würde man Mitte November 9000 Patienten an den Beatmungsgeräten der Intensivstationen haben - und damit das Limit der Kapazität erreichen, erklärt der Präsident.
Frankreich führe pro Woche rund 1,9 Millionen Covid-Tests durch, mit etwa 100.000 Anrufen pro Tag versuche man die Ansteckungsketten zu verfolgen. Auch seien die Behörden im Sommer nicht untätig gewesen: Man habe Medikamente, Masken und Schutzmaterial eingelagert und mehrere Tausend medizinische Mitarbeiter in Intensivpflege geschult. Aber all das sei eben nicht genug angesichts der gegenwärtigen Welle von Infektionen.
Macron versucht erkennbar, die bisherige Regierungsarbeit zu rechtfertigen: "Unsere Strategie war, mit dem Virus zu leben". Man habe in den vergangenen Monaten alles diskutiert: Die sogenannte Herdenimmunität oder den Schutz nur der Älteren - aber jede dieser Maßnahmen hätte zu viele Tote und schwere Krankheitsverläufe bedeutet. Inzwischen sind 35 Prozent der schwer an COVID-19 Erkrankten unter 65 Jahre alt, so der Präsident. Man beobachte auch bei jungen Menschen immer häufiger schwere Folgeerscheinungen und deshalb gebe es die zweite Quarantäne: "Der Schutz des Lebens steht für uns über allem".
Noch Anfang Oktober hatte Finanzminister Bruno Le Maire gesagt, eine zweite Stillegung der französischen Wirtschaft sei nicht denkbar. Im Sommer hatten Ökonomen bereits einen Einbruch der Wirtschaftsleistung zwischen elf und 14 Prozent vorhergesagt. Darin ist unter anderem der völlige Zusammenbruch des Tourismus in Frankreich enthalten - allein Paris hat pro Jahr viele Millionen Besucher.
Wie sich eine zweite weitgehende Schließung des Landes auswirken wird, ist noch ungeklärt. Der Verband der Kleinunternehmer der Isle de France fürchtet, für viele Restaurants, Familienbetriebe und kleine Dienstleister werde es jetzt ums Überleben gehen.
Die Maßnahmen werden akzeptiert - noch
In Frankreich war bisher die Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen der Regierung relativ hoch. "Nur etwa zehn Prozent der Bürger lehnen sie ab und wir hatten bisher keine Rebellion oder gewalttätigen Proteste wie jetzt in Italien", sagt Bernard Sananès vom Umfrageinstitut Elabe. Allerdings seien die Franzosen bei Einschränkungen empfindlich, die sie als ungerecht empfinden würden.
Wenn es jetzt wütende Reaktionen von den Besitzern kleiner Restaurants und Läden gebe, dann sei das "Wut gemischt mit Angst", denn neben den wirtschaftlichen Folgen für viele Menschen werde die zweite Runde auch schwierig für die Moral. Nach der Aufhebung der ersten Quarantäne seien die Franzosen erleichtert gewesen. Jetzt sei klar, dass die Opfer noch nicht ausgereicht hätten.
Präsident Macron versucht seinen Bürgern wenigstens etwas Hoffnung darauf zu machen, dass man Weihnachten und die Jahreswende in der Familie feiern könne wie gewohnt. Aber er kann nicht garantieren, dass die nächsten vier Wochen dem Land genug Atempause verschaffen.