NATO will Putin weiter abschrecken
13. Oktober 2022Zwei Stunden lang tagte in Brüssel die "Nukleare Planungsgruppe" im Rahmen des Verteidigungsminister-Treffens der NATO. Wie immer hinter verschlossenen Türen.
Und wie immer gab es keine Informationen über die Ergebnisse oder den Inhalt der Beratungen von 29 NATO-Staaten über Fragen der atomaren Strategie und Bewaffnung. Mitglied Nummer 30, Frankreich, nimmt an der "Nuklearen Planungsgruppe", aus Prinzip nicht teil. Die Atommacht Frankreich will ihre Unabhängigkeit in diesem Bereich waren.
Die Sitzungen der "Nuklearen Planungsgruppe" waren seit Jahren kaum beachtete Routine-Veranstaltungen, da eine direkte Bedrohung durch russische beziehungsweise sowjetische Atomwaffen, anders als im Kalten Krieg bis 1989, nicht mehr gesehen wurde.
Das hat sich jetzt gründlich geändert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die wiederholten direkten und indirekten Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen durch die russischen Machthaber hat das nukleare Konzept der nordatlantischen Allianz plötzlich wieder hochaktuell gemacht.
Ein geheimer Plan
Wie reagiert die NATO auf die Drohungen aus Moskau oder gar den bisher undenkbaren Einsatz einer taktischen russischen Atomwaffe in der Ukraine? "Wir sind vorbereitet", sagte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in Brüssel. Gleichzeitig bat sie um Verständnis, dass sie Konkretes aus der geheimen "Nuklearen Planungsgruppe" natürlich nicht nennen könne.
Der Gegner, also Russland, soll bewusst im Unklaren gelassen werden. Das ist Teil der Abschreckungsstrategie. Ein NATO-Diplomat, der nicht genannt werden will, sprach von einer "massiven physischen Antwort", falls der russische Kriegsherr Wladimir Putin, eine Atomwaffe einsetzen sollte. Die Antwort müsse nicht unbedingt auch atomar sein. Was er genau meinte, ließ der NATO-Diplomat im Ungefähren.
Christine Lambrecht, die deutsche Ministerin, gab sich überzeugt, das Treffen der NATO-Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister halte für Putin eine klare Botschaft bereit. Nur welche, sagte sie nicht.
"Es wird ein Signal sein, dass Putin klarmacht, der Einsatz solcher Waffen überschreitet jegliche Grenze", so Lambrecht. Auf jeden Fall, müsse man die Drohungen der russischen Führung sehr ernst nehmen. Sie seien kein Bluff.
Ihr Kollege aus Estland, Hanno Pevkur, stimmte im DW-Interview zu. Die Entscheidungen Wladimir Putins könnten sich schnell ändern und seien schwer vorherzusehen.
"Wir sehen die Unberechenbarkeit. Das, was wir machen können, müssen wir jetzt auch machen. Mit guter Koordination untereinander können wir vorbereitet sein."
Dieser Koordination diente das Treffen der "Nuklearen Planungsgruppe". Was bei der Sitzung beschlossen wurde, wollte auch der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur nicht verraten. "Man muss auf alle Drohungen vorbereitet sein. Genau das machen wir. Die Pläne sind geheim, aber glauben Sie mir, wir haben Pläne!"
Wirkt Abschreckung noch?
Bislang beruhte das nukleare Konzept auf gegenseitiger Abschreckung. Die USA und Russland hielten sich mit ihren strategischen Interkontinentalwaffen gegenseitig in Schach. "Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter", war das geflügelte Wort im Kalten Krieg.
Auch in ihrer neusten Strategie, die erst in diesem Sommer in Madrid beschlossen wurde, setzt die NATO auf ein Gleichgewicht des Schreckens. "Die NATO wird weiterhin eine glaubwürdige Abschreckung aufrecht erhalten, strategische Kommunikation verbessern, die Effizienz von militärischen Übungen verbessern und strategische Risiken reduzieren", heißt es in dem NATO-Dokument.
Der Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft und Reichweite, wie ihn Putin jetzt androht, ist übrigens in der US-amerikanischen Nukleardoktrin im Prinzip auch möglich. Unter gewissen, streng definierten Umständen ist ein begrenzter Einsatz als Erster denkbar.
So lange die gegnerischen Lager rational entscheiden, funktionierte die Abschreckung ganz gut, auch im aktuellen Konflikt um die Ukraine. Das meint Raphael Loss vom "Europäischen Rat für Außenpolitik", einer internationalen Denkfabrik.
"Abschreckung hat in beide Richtungen funktioniert. Die NATO schreckte durch russische Drohungen davor zurück, direkt in den Krieg einzugreifen. Russland wurde davon abgehalten, direkt NATO-Gebiet anzugreifen. Das ist eine unbequeme Lage und das weiß die NATO auch. Sie agiert deshalb vorsichtig und langsam bei der Unterstützung der Ukraine, weil im Hintergrund immer die Eskalation droht", sagte Raphael Loss der DW. Der Sicherheitsexperte empfiehlt den NATO-Ministerin sich von Drohungen nicht lähmen zu lassen. "Bislang hat das ganz gut funktioniert".
Biden und Macron wollen beruhigen
NATO-Diplomaten geben an, dass bislang keinerlei Truppenbewegungen in Russland zu erkennen seien, die Anzeichen für die Vorbereitung eines nuklearen Einsatzes sein könnten. Und auch der amerikanische Präsident Joe Biden versuchte zu beruhigen. Er gehe nicht davon aus, dass Putin tatsächlich taktische Atomwaffen einsetzen werden, sagte Biden in einem Interview. Putin entscheide rational, habe sich aber mit Ukraine-Krieg völlig verkalkuliert.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron twitterte: "Wir wollen keinen Weltkrieg." Die Abschreckung mit Atomwaffen funktioniere am besten, wenn man nicht dauernd darüber rede, sagte Macron in Paris mit Blick auf die NATO-Tagung in Brüssel.
So ganz geschlossen war die NATO-Phalanx am Donnerstag nicht. Während in Brüssel über atomare Bedrohung durch Putin gerätselt wurde, traf der türkische Präsident Erdogan den russischen Machthaber zu Wirtschaftsgesprächen. Die Türkei ist NATO-Mitglied.
"Europäisches Himmelsschild"
Nachdem 50 Staaten in der sogenannten "Ramstein"-Gruppe der Ukraine weitere militärische Unterstützung vor allem bei der aktuell wichtigen Luftverteidigung zugesagt haben, will die NATO nun ihren eigenen Schutz erhöhen.
"Es ist etwas, wo wir Lücken aufweisen", sagte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Sollte Russland heute mit Raketen angreifen, könnten die Geschosse im Luftraum der NATO nicht zuverlässig abgefangen werden, hieß es von NATO-Diplomaten.
Deshalb haben Deutschland als Koordinator und 14 weitere europäische NATO-Staaten in Brüssel eine Absichtserklärung unterschrieben. Sie wollen in den nächsten Jahren gemeinsam Abwehrsysteme gegen Raketen, Drohnen und Marschflugkörper einkaufen, betreiben und warten.
Das "Europäische Himmelsschild" soll die Zusammenarbeit in der NATO nach Jahren des Abbaus der Fähigkeiten bei der Luftverteidigung wieder stärken. Für den Schutz gegen mögliche russische Angriffe sollen IRIS-T Systeme, mehr Patriot-Raketen und ein neues System aus Israel namens Arrow 3 gekauft werden.
Arrow 3 ist gegen Lang- und Mittelstreckenraketen in großer Höhe über dem gesamten NATO-Gebiet einsetzbar. Die Patriot-Raketen sollen einzelne Regionen schützen. Die IRIS-T Systeme sind zum Schutz von einzelnen Städten oder Truppenteilen einsetzbar.
Doch die ersten Systeme werden erst in einigen Jahren bei der Truppe auch tatsächlich eintreffen. Der größte Engpass sind dabei nicht die finanziellen Mittel, sondern die begrenzten Kapazitäten in der Rüstungsindustrie.