Putin und die nukleare Abschreckung der NATO
27. Februar 2022Ist die inzwischen unverhüllte Drohung von Präsident Wladimir Putin mit seinen Nuklearwaffen eine Rückkehr in den kalten Krieg? Eine Zeit, in der gegenüberstehende atomare Arsenale verhinderten, dass die Raketen jemals eingesetzt wurden. Als brisantester Moment in diesem jahrzehntelangen Abschreckungsszenario zwischen Warschauer Pakt und NATO gilt die Kuba-Krise von 1962, die Washington und Moskau damals in letzter Minute diplomatisch entschärfen konnten. Im Prinzip hat sich an der politischen Logik nichts geändert: Beide Seiten müssen davon ausgehen, dass der Preis für den Einsatz von Atomwaffen zu hoch ist, weil die andere Seite sofort zurückschlagen würde. Ein Patt des Schreckens.
NATO-Atomwaffen in Europa verteilt
Als Putin zum Beginn seiner Invasion in die Ukraine die NATO vor einem Eingreifen warnte und mit Konsequenzen drohte "wie ihr sie noch nie in der Geschichte gesehen habt", entgegnete darauf der französische Außenminister Yves le Drian, er verstehe dies durchaus als Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen und fügte hinzu: "Ich glaube Wladimir Putin muss verstehen, dass auch die NATO ein nukleares Bündnis ist."
Seit Mitte der fünfziger Jahre haben die USA eine Anzahl von Atomwaffen im Rahmen der NATO auf europäischem Boden stationiert. Wobei die genauen Zahlen geheim gehalten werden. Das Militärbündnis selbst erklärte, es gebe etwa 100 nukleare Sprengköpfe, die auf sechs Militärbasen in fünf Mitgliedsländern gelagert sind: Kleine-Brogel in Belgien, der Stützpunkt Büchel in Deutschland, Aviano und Ghedi in Italien, Volkel in den Niederlanden und Incirlik in der Türkei.
Entsprechend der NATO-Russland-Grundakte von 1997 hat die NATO bisher auf eine Stationierung von Atomwaffen in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern verzichtet. Nach der russischen Invasion in die Ukraine wird allerdings die Gültigkeit dieser Vereinbarung infrage gestellt. Dennoch reagierte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Sonntag in der BBC auf die jüngste Drohung aus Moskau weiter vorsichtig: "Das zeigt die Ernsthaftigkeit der Situation. Die NATO will keinen Krieg mit Russland, wir sind ein Verteidigungsbündnis."
Die im Rahmen der NATO in Europa stationierten Atomwaffen sind allerdings nur ein kleiner Teil des gesamten Arsenals der Atommächte. Nach jüngsten Schätzungen verfügt Russland über 6250 nukleare Sprengköpfe, die USA über 5500, Frankreich hat 290 und Großbritannien 225. Nach den Abrüstungsabkommen der achtziger Jahre hatten beide Seiten die Menge ihrer Atomwaffen drastisch verringert: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfügten die USA über etwa 70.000 und Russland über rund 55.000 nukleare Sprengköpfe.
Nuklearer Einsatzcode in unterirdischen Silos
Nach Angaben der Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler (FAS) halten die USA, Frankreich und Großbritannien etwa 970 ihrer Nuklearwaffen im Zustand der Bereitschaft. Das heißt, sie werden zusammen mit den Abschusssystemen gelagert und sollen in rund fünfzehn Minuten einsatzbereit sein. Dem stehen ungefähr 900 Abschussbereite russische Atomköpfe gegenüber.
In der NATO gilt das Prinzip der nuklearen Teilhabe, das heißt im Prinzip sind alle Mitgliedsländer in Planung und Einsatz einbezogen. Allerdings liegt der Einsatzcode für die Waffen in ihren unterirdischen Silos weiter in US-amerikanischer Hand. Entscheidungen werden im Rahmen der nuklearen Planungsgruppe der NATO getroffen, deren Treffen der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegen.
Die NATO führt jedes Jahr eine Woche lang ein nukleares Manöver durch, das "Steadfast Noon" genannt wird. Im vergangenen Oktober wurden die Übungen über Südeuropa abgehalten und es nahmen nach offiziellen Angaben vierzehn Mitgliedsländer daran teil. In der Regel werden die Gastgeberländer dabei nicht genannt - alles unterliegt der Geheimhaltung. Und es werden in den Manövern auch keine echten Atomwaffen benutzt, sondern ihr möglicher Einsatz nur simuliert.
Einsatz taktischer Atomwaffen Russlands nicht ausgeschlossen
Neben den großen, strategischen Nuklearwaffen verfügen alle Seiten auch über kleinere, sogenannte taktische Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft, die auf normale Gefechtsträger geladen werden können. Sie würden nicht ganze Landstriche zerstören, aber eine größere Region nuklear verseuchen, vergleichbar etwa mit einem großen Unfall in einem Atomkraftwerk. Manche Experten glauben, dass Präsident Putin erwägt, eine solche taktische Atomwaffe einzusetzen, um bei der NATO Angst auszulösen und ihre geschlossene Front gegenüber Russland aufzubrechen.
Was Putin allerdings genau mit dem am Sonntag verwendeten Begriff "besondere Gefechtsbereitschaft" meint, darüber rätseln auch Fachleute. Die britische Zeitung "The Guardian" zitiert dazu Pavel Podevig, der in Genf für das Forschungsprojekt über "Russische atomare Bewaffnung" arbeitet. Es könne sich um ein "vorläufiges Kommando" handeln, das einen Vergeltungsschlag möglich mache, sagt er. "Es ist aber keine Vorbereitung auf einen Erstschlag."
Podvig hält die Formulierung nicht für die höchste Stufe der Bereitschaft, sondern für eine Aktion, die zunächst die Reaktionsbereitschaft der Kommandokette herstellen solle: "Aber es ist eine ziemlich hohe Stufe." Russland hat in Belarus bereits eine Reihe von fortgeschrittenen Raketensystemen stationiert sowie seine Kriegsflotte im Schwarzen Meer in Position gebracht.