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Politik

Wie real ist Putins Atomdrohung?

Marina Baranovska
12. Oktober 2022

Der Kreml droht immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg. Ist Wladimir Putin wirklich bereit zu diesem Schritt? Was könnte für ihn zur "roten Linie" werden? Die DW hat mit Experten gesprochen.

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Explosion einer Atombombe (Archivbild)
Atompilz: Die Angst vor einem Einsatz russischer Nuklearwaffen wächst (Archivbild)Bild: McPHOTO/M. Gann/picture alliance

Seit Ende September führen die ukrainischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive in den Gebieten Charkiw, Donezk, Luhansk und Cherson durch. Im Kreml nehmen die Spannungen zu und weltweit wächst die Besorgnis über einen russischen Einsatz von Atomwaffen, mit dem der russische Präsident Wladimir Putin seit Beginn des Krieges in der Ukraine droht.

Die britische Zeitung "The Times" berichtete unter Berufung auf NATO-Quellen, Russland bereite Atomwaffentests im Schwarzen Meer vor. Im Internet erschien ein Video, auf dem ein russischer Militärzug zu sehen ist, der sich in Richtung der ukrainischen Grenze bewegt und angeblich mit der 12. Hauptdirektion des russischen Verteidigungsministeriums in Verbindung steht, die für das Nukleararsenal des Landes zuständig ist.

Der Kreml eskaliert in kleinen Schritten

Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, nimmt die Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes ernst. Jener Militärzug und auch das Auslaufen des U-Bootes K-329 "Belgorod" könnten nukleare Botschaften sein. "Die russische Führung zeigt der Ukraine und den Regierungen des Westens, dass Russland durchaus fähig, aber auch möglicherweise willens ist, Nuklearwaffen einzusetzen", so Mangott. "Das dient im Augenblick vor allem der Abschreckung. Es soll signalisiert werden, dass die Ukraine ihre Offensive nicht weitertreiben und der Westen die Ukraine nicht weiter mit Waffen unterstützen soll."

Porträt von Gerhard Mangott
Politikwissenschaftler Gerhard Mangott nimmt die Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes ernstBild: Celia di Pauli

Sollten diese Drohungen die ukrainische Gegenoffensive nicht stoppen, könnte Wladimir Putin zur nächsten Stufe übergehen. "Als radikalisierte Botschaft 'Stoppt die Offensive' könnte Russland einen Test einer taktischen Nuklearwaffe über dem Schwarzen Meer oder in Kamtschatka durchführen." Sollte auch eine Explosion über unbewohntem Gebiet nichts bringen und die Ukraine weiter Gebiete zurückerobern, könnte Russland, so Mangott, eine taktische Nuklearwaffe einsetzen: "Das wird dann nicht an der Frontlinie passieren, sondern rückwärtig über bewohntem, ukrainischen, städtischem Gebiet."

Sollte eine russische Atombombe über unbewohntem Gelände keine abschreckende Wirkung zeigen, glaubt der Militärexperte und ehemalige Oberst der Bundeswehr, Ralph Thiele, dann könnte Moskau versuchen, politische und wirtschaftliche Ziele in der Ukraine anzugreifen. "Es könnte eine Explosion sein, die einen elektromagnetischen Puls sendet und im Bereich von Hunderten Quadratkilometern alles kaputt macht, was elektrisch betrieben wird - Autos, Fernseher, Satelliten, Computer, Elektrizitätswerke. Das wäre eine Variante."

Starke Worte aus den USA

Die meisten internationalen Experten sind sich einig, dass ein Atomwaffeneinsatz für Russland verheerende Folgen hätte. "Schon bei einem Test, der ja eigentlich gegen das von Russland ratifizierte umfassende Teststopp-Abkommen verstoßen würde, gäbe es heftige Wirtschafts- und Finanzsanktionen", erklärt Mangott.

Vor "katastrophalen Folgen" hatte bereits der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, gewarnt. In einem Interview mit dem Sender CBS sagte er Ende September, dass hochrangige US-Beamte dies dem Kreml "direkt, vertraulich, auf höchster Ebene" deutlich gemacht hätten.

Die Antwort der USA und der NATO dürfte Gerhard Mangott zufolge militärisch ausfallen. So habe der frühere CIA-Direktor David Petraeus erklärt, die USA und ihre Verbündeten seien bereit, die gesamte russische Armee auf dem Territorium der Ukraine zu vernichten und die Schwarzmeerflotte zu versenken. Mangott glaubt, dass ein solcher Schlag asymmetrisch wäre, also mit konventionellen Waffen: "Putin wird nicht nur kommuniziert, wie der Westen auf einen Atombombeneinsatz reagieren wird, sondern auch, dass Russland dann global isoliert wird und auch China und Indien einen solchen Schritt verurteilen würden."

Chinas ungenutztes Potential

Bislang hat China im Ukraine-Krieg eine neutrale Position eingenommen. Gleichzeitig sind sich viele Experten einig, dass Peking  dazu beitragen könnte, Putin von einem Atomschlag abzuhalten. Ralph Thiele glaubt, dass der Westen mehr tun sollte, um China zu seinem strategischen Verbündeten zu machen. "Putin ist von China abhängig. Die Welt hätte hier eine Möglichkeit, durch eine stärkere Einbindung Chinas einen Waffenstillstand als ersten Schritt zu erwirken."

Militärexperte Ralph D. Thiele
Oberst a.D. Ralph Thiele plädiert für eine stärkere Einbindung ChinasBild: privat

Der Westen, so der Experte, solle China allerdings nicht dazu drängen, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Für Peking wäre dies nicht von Vorteil. China sei daran interessiert, den Krieg in der Ukraine zu beenden, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Das Land wolle auch nicht, dass sich der Krieg zu einem Atomkrieg entwickelt. "Unsere Politiker wollen eigentlich China aus Europa heraushalten, weil sie finden, es ist schon schwer genug, in Zukunft weltwirtschaftlich und geopolitisch mit China zurechtzukommen. Ich finde, da müssen wir eben die kleinere Kröte schlucken, nämlich die unangenehme, stärkere Präsenz Chinas hier in Europa", so Thiele. Das wäre ihm zufolge eine Trumpfkarte, die man jetzt langsam ziehen sollte.

Die Krim: Putins "rote Linie"

Ob die Warnungen aus Washington eine abschreckende Wirkung zeigen werden, hängt nach Ansicht von Gerhard Mangott vom weiteren Verlauf der Kampfhandlungen in der Ukraine ab. Zur "roten Linie" für Wladimir Putin könnte dem Experten zufolge der Versuch des ukrainischen Militärs werden, die Krim zurückzugewinnen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass er zuschauen würde, dass die Ukraine die Krim zurückerobert. Das würde seine Position unmittelbar in Gefahr bringen und seinen Sturz mit sich bringen. Die große Frage ist, ob Putin, um die Niederlage abzuwehren, kaltblütig und besessen genug ist, in einer solchen Situation auch zum Äußersten zu gehen und eine Nuklearwaffe einzusetzen", so Mangott. "Ich fürchte, Putin ist kaltblütig und besessen genug. Aber es gibt zumindest noch einen Rest Hoffnung, dass sein Befehl, Nuklearwaffen einzusetzen, von denen, die das umsetzen müssen, nicht erfüllt wird."

Derzeit gebe es jedoch keine Anzeichen dafür, dass sich die russische Führung für den Einsatz von Atomwaffen entschieden habe, betont Gerhard Mangott. "So weit sind wir noch nicht. Wir sind auch noch nicht in dem Stadium, wo Russland Gefahr läuft, diesen Krieg katastrophal zu verlieren. Aber mit jeder Kriegsniederlage, die Russland auf dem Schlachtfeld erleidet, mit jeder Rückeroberung von russisch eroberten Gebieten durch die ukrainische Armee kann die Wahrscheinlichkeit in diese Richtung steigen."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk