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PolitikNahost

Nahost-Krieg: "Angst" in jüdischen Gemeinden in Deutschland

13. Oktober 2023

Nach den Terrorangriffen der Hamas in Israel schauen die jüdischen Gemeinden auf die Entwicklung in Nahost. Sie haben Sorge, auch in Deutschland nicht mehr sicher zu sein.

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Blick auf eine uniformierte Person von hinten mit der Aufschrift Polizei. Sie steht vor einem runden Gebäude mit einem grünen Dach, in einer runden Fensteröffnung ist ein symbolisierter siebenarmiger Leuchter zu sehen
Jüdische Einrichtungen in Deutschland werden schon seit langem von Polizisten geschütztBild: Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance

Esther K (Name auf eigenen Wunsch geändert) wird diesen Moment nicht vergessen. Samstag früh schreibt ihr eine Freundin: "Schau mal, was in Israel los ist." Die Immobiliengutachterin denkt da noch: "Wir sind es alle gewohnt, dass da in diesem kleinen verrückten Land irgendwas passiert." Doch dann liest sie, dass die Hamas - die von Deutschland, den USA, der EU, Israel und weiteren Ländern als Terrororganisation eingestuft wird - von Gaza aus Israel überraschend mit Raketen angegriffen hat. Gleichzeitig dringen bewaffnete Islamisten über Land, See und Luft nach Israel vor. Ihr Handy wird geflutet von Hilferufen und Fotos aus Israel. "Wer hat meine Mutter gesehen?" Die Hamas-Terroristen ermorden Menschen in Grenznähe, nehmen Geiseln.

Israel | Kibbutz Kfar Aza: Mehrere Soldaten stehen vor einem Gebäude, der Mann vorne hält sich den Arm vor die Nase
Das Vertrauen in die Sicherheit ist durch den Terror-Angriff der Hamas schwer erschüttert Bild: Alexi J. Rosenfeld/Getty Images

Esther K sagt, sie empfinde seitdem nur eine schwarze Leere. "Immer noch gehen Soldaten in diese Dörfer und finden erschossene Eltern, erschossene kleine Kinder neben laufenden Playstations", sagt K. Wie viele andere auch habe sie auf ihr Handy gestarrt und gedacht: "Was ist das? Was ist das? Wo ist das Militär?"

So verletzlich wie noch nie

Israel hat eine der besten Armeen, den Geheimdienst Mossad, das Raketenabwehrsystem Iron Dome. Bis heute ist Leo Latasch, Vorstandsmitglied und Sicherheitsdezernent der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, fassungslos, warum der Terrorangriff nicht rechtzeitig entdeckt wurde. Mit dieser Verletzbarkeit hatte er nicht gerechnet.

Terrorangriff der Hamas: Israelis bangen um Vermisste

Der Mediziner musste hilflos zusehen, wie seine israelischen Kollegen ohne jeglichen militärischen Schutz versuchten, Leben zu retten. "Ich weiß nicht, wie das enden wird. Man weiß auch nicht, wie viele Menschen noch sterben werden", sagt Latasch angesichts der möglichen Bodenoffensive Israels im Gazastreifen.

Jüdisches Leben hinter Schutzzäunen

Für Deutschland hat es große Bedeutung, dass zeitweise wieder über 100.000 Jüdinnen und Juden hier lebten. Jüdisches Leben, mit seinen Festen, Bräuchen, Schulen und Sportvereinen sollte nach dem Holocaust überall in Deutschland wieder möglich sein. Das war und ist es auch. Doch sicher war es nur durch Polizeischutz, Kontrollen und hohe Zäune.

Der Sprecher der jüdischen Gemeinde in Berlin, Ilan Kiesling, klingt etwas bitter, wenn er der DW schreibt: "Für unsere Einrichtungen existiert schon seit längerem eine erhöhte Sicherheitsstufe. So haben sich unsere Gemeindemitglieder bereits seit den 1970er Jahren daran gewöhnt, dass das Gemeindeleben hinter Schutzzäunen und Überwachungskameras stattfindet. Nicht zuletzt durch den europaweit besorgniserregenden Anstieg der Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Personen, sind wir weiterhin gezwungen, unsere Mitglieder und Einrichtungen auf hohem Niveau zu schützen."

Die ehemalige Tür zur Synagoge in Halle, die den Schüssen eines rechtsextremen Täters standgehalten hat, steht nun als Mahnmal vor dem Gotteshaus
Antisemitischer Terror in Deutschland: Der Attentäter von Halle, der bekennende Rechtsextremist Stephan B, war bei seinem versuchten Massenmord nur an der Tür zur Synagoge gescheitertBild: Heiko Rebsch/picture alliance/dpa

Schon lange werden große Teile der Etats der jüdischen Gemeinden für Sicherheit verwendet. Die meisten haben eigene Sicherheitsabteilungen, arbeiten eng mit der Polizei und den Landeskriminalämtern zusammen. Doch nach den Terrorangriffen und der Erfahrung der Verletzbarkeit, vertrauen viele Jüdinnen und Juden nicht mehr auf diese Sicherheit.

Die Angst der Eltern um ihre Kinder

Anruf bei der jüdischen Kindertagesstätte in Berlin. Die Mitarbeiterin dort ist sichtlich aufgeregt. "Die Eltern haben Angst, einfach nur Angst", sagt sie. In viele jüdische Kindergärten kam Anfang der Woche nur die Hälfte der Kinder. Auch Ilan Kiesling konnte das in Berlin beobachten: "Wir merken das zum Beispiel aktuell bei unseren Kindergärten und Schulen, wo Eltern ganz genau über die Sicherheitsmaßnahmen informiert werden möchten."

Leo Latasch ist seit 37 Jahren für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main zuständig. Auch er versucht, die Eltern zu beruhigen, erklärt immer wieder, dass der Konflikt in Israel und nicht in Frankfurt stattfindet. "In so einer Situation waren wir noch nie", sagt Latasch. Ebenso wie die Polizei rechnet er mit wochenlangen Demonstrationen von radikalislamischen Gruppierungen vor jüdischen Einrichtungen.

Für diesen Freitag hat die islamistische Hamas zur Mobilisierung der arabischen und muslimischen Welt aufgerufen. Es sei der "Freitag der Al-Aksa-Flut", teilte die Hamas mit. Wer will es jüdischen Eltern verdenken, wenn sie am Freitag ihre Kinder lieber in ihrer Nähe hätten.

Blick auf eine Menschengruppe, die mit Flaggen und Transparenten demonstriert. Im Zentrum eine Frau mit einem schwarz-weißen Palästinensertuch auf dem Kopf und ein Mann, der ein Schild hochhält und den Mund rufend geöffnet hat
Bleibt es bei Demonstrationen? Manche fürchten Angriffe radikalislamischer Gruppen in DeutschlandBild: Jochen Tack/picture alliance

Antisemitismus ist nicht nur ein arabisch-muslimisches Problem in Deutschland. Bereits 2022 hat das American Jewish Comittee (AJC) die Haltungen der Gesamtbevölkerung in einer repräsentativen Studie des Instituts für Demographie Allensbach ermitteln lassen. Die Umfrage belegte, dass Antisemitismus nicht ausschließlich ein Problem der politischen Ränder, sondern "tief verankert" in der Mitte der Gesellschaft sei.

Dies sei eine ganz reale Bedrohung für alle Juden in Deutschland, sagt Marina Chernivsky von der Beratungsstelle OFEK. Und dann, so die Geschäftsführerin von OFEK und Leiterin des Kompetenzzentrums Antisemitismus, "erleben sie die massivste Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Israel seit der Shoah. Dadurch wird ein tiefsitzendes Trauma neu getriggert. Damit müssen sie nun umgehen". Deshalb seien die Jüdinnen und Juden in Deutschland gerade einer Doppelbelastung ausgesetzt.

Seitdem hat die Beratungsstelle OFEK sehr viel zu tun. Stark angewachsen sei der Zulauf der Beratung in der Krisenhotline. Es geht um konkrete Fälle, aber auch um Eltern, die wissen wollen, wie sie mit ihren Kindern über Krieg sprechen sollen.

Für die Deutschen ist es nur ein Desaster mehr

Esther K hat sich sehr engagiert, als es darum ging, für die ukrainischen Flüchtlinge Kleidung und Wohnraum zu finden. Es ist mittlerweile eine große WhatsApp-Gruppe geworden. Da der Flugverkehr mit Israel eingestellt wurde, sind viele israelische Touristen nun in Deutschland gestrandet. Darunter etliche Frauen mit Kindern.

Für sie wollte K nun schnell Unterbringungsmöglichkeiten über die alte WhatsApp-Gruppe organisieren. Doch außer einer älteren Dame regierte niemand. Noch nicht einmal ein paar mitfühlende Worte kamen, so Esther K enttäuscht: "Für die Deutschen ist es nur ein Desaster mehr auf der Welt." Deshalb fühle sie sich in Deutschland komplett allein gelassen.

Konsequenter gegen Antisemitismus vorgehen

Leo Latasch ist schockiert, dass die Hamas-Terroristen eine 90-jährige Israelin ermordeten, die Tat mit dem Handy der alten Dame filmten und auf deren Facebookseite stellten. "An Perversität ist das nicht zu überbieten", sagt Latasch. Gruppierungen, die solche Taten als palästinensischen Befreiungskampf verkauften, gehören für ihn verboten. Verantwortlich macht er für das Zögern auch antisemitische Einstellungen bei den Linken.

Auch Esther K fordert ein härteres Vorgehen gegen radikal-islamische Gruppierungen: "Man tötet keine Babys. Man entführt keine Dreijährigen. Die Dinge sind an Hässlichkeit grenzenlos", sagt die Berlinerin.

Die jüdische Gemeinde in Berlin hatte gefordert, das propalästinensische Samidoun-Netzwerk zu verbieten. Samidoun-Mitglieder hatten in Berlin aus Freude über den Hamas-Terror Süßigkeiten verteilt. "Solche Bilder wollen wir in Berlin nicht mehr sehen", betont Ilan Kiesling. Bundeskanzler Olaf Scholz hat jetzt ein Betätigungsverbot für die Hamas in Deutschland und ein Verbot für den Verein Samidoun angekündigt.

Demonstrationen gegen Israel