Afghanistan: Wie umgehen mit den Taliban?
17. August 2021Der 19. August ist Afghanistans Unabhängigkeitstag. Kaum jemand hätte gedacht, dass die Taliban an diesem Nationalfeiertag schon im Präsidentenpalast in Kabul sitzen würden – vielleicht noch nicht einmal die Islamisten selbst. Was Bundeskanzlerin Angela Merkel als "überaus bittere Entwicklung" bezeichnet, verlangt nach der Beantwortung der Frage: Was tun, wenn die Terroristen von gestern die Regierenden von heute sind?
Deutschland, der Westen, hat Interessen in Afghanistan. Warum sonst hätte sich Berlin zwanzig Jahre lang massiv in Afghanistan engagiert: militärisch, entwicklungspolitisch, humanitär? Und auch wenn der frühere Präsident Ashraf Ghani geflohen ist: Diese Interessen haben sich nicht verflüchtigt. Am allerwenigsten das Interesse an Stabilität am Hindukusch und daran, neue Rückzugsräume für international operierende islamistische Terroristen zu verhindern. Dass die neuen Machthaber in Kabul ihre Position auch durch Terroranschläge erlangt haben, macht die Sache nicht leichter.
Entsprechend fiel auch die Warnung von Bundesaußenminister Heiko Maas Mitte letzter Woche aus: "Sollten die Taliban ein Kalifat errichten, werden sie sich international abkoppeln, wird es keine diplomatische Anerkennung für einen solchen Staat geben, und es wäre Schluss mit den internationalen Hilfsprogrammen", so Maas. Afghanistan war bisher die Nummer eins unter den Empfängerländern deutscher Entwicklungshilfe. Die wurde jetzt ausgesetzt. Für dieses Jahr waren 250 Millionen Euro veranschlagt, von denen aber noch kein Euro ausgezahlt wurde.
Taliban Herrschaft akzeptieren?
Widerspruch kommt unter anderem von Markus Kaim, Afghanistan-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), einem in der Berliner Politik einflussreichem Think-Tank. In einem Interview mit dem Handelsblatt analysierte Kaim am Montag, über kurz oder lang werde man die Herrschaft der Taliban akzeptieren müssen: "Im Moment gibt es von Bundesaußenminister Heiko Maas und anderen eine Trotzreaktion nach dem Motto: keine Anerkennung, keine Verhandlungen, kein Geld. Das ist menschlich zwar verständlich, ist aber keine Strategie für eine geopolitisch wichtige Region". Kaim spricht sich für Gespräche mit den Taliban aus.
In mindestens einem Punkt strebt auch die Bundesregierung direkte Gespräche mit den Taliban an: Bezüglich der Evakuierung der afghanischen Helfer von Bundeswehr und Bundesministerien. Am Dienstag kündigte Außenminister Maas an, Botschafter Markus Potzel dafür nach Katar zu schicken.
Für weitergehende Gespräche mit den Taliban hat im Bundestag immer wieder die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz plädiert. Der DW sagte Özoguz, die auch im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags sitzt: "Die Taliban können auf Dauer völlig isoliert nicht viel erreichen. Sie sind auf Hilfsgelder und humanitäre Unterstützung angewiesen. Die Lage ist derzeit aber völlig unübersichtlich und sehr besorgniserregend. Grundsätzlich setzen wir uns für einen politischen Dialog mit Afghanistan ein. Dafür müssen wir aber abwarten, ob es zu geordneten Strukturen in Afghanistan mit einer gesprächsfähigen und gesprächswilligen Regierung kommt."
Hälfte der Menschen braucht Hilfe
Die Zeit drängt: Das Amt der Vereinten Nation für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) geht in seiner Prognose für dieses Jahr davon aus, dass fast die Hälfte der fast 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werde – fast doppelt so viele wie im vergangenen Jahr.
Humanitäre Hilfe werde grundsätzlich unabhängig von den politischen Verhältnissen angeboten, betont im DW-Gespräch Winfried Nachtwei. "Es kann ja nicht im europäischen und deutschen Interesse sein, dass sich die humanitär katastrophale Lage in Afghanistan noch weiter verschärft", urteilt der Grünen-Politiker und Sicherheitsexperte, der die Entwicklungen in Afghanistan intensiv verfolgt.
Wie man mit der neuen Regierung in Kabul umgehen soll, hängt für Nachtwei vor allem davon ab, ob neben den Taliban auch "andere Kräfte in der Regierung vertreten wären". Die Taliban bemühen sich erkennbar, genau dieses Bild zu vermitteln. Vizechef Mullah Baradar kündigte eine "offene, inklusive islamische Regierung" an und deutete damit an, dass auch Nicht-Taliban an der Macht beteiligt werden sollen. Talibansprecher Muhammad Naim öffnete die Tür zur Weltgemeinschaft mit der Erklärung, man wolle "kein isoliertes Land" regieren.
Bewegung auf internationaler Ebene
Einige Staaten sind dieser Einladung bereits gefolgt. China etwa hatte ungewöhnlich schnell auf den Machtwechsel in Kabul reagiert. "Wir respektieren die Entscheidung des afghanischen Volkes", verkündete die Sprecherin des Pekinger Außenministeriums Hua Chunying am Montagnachmittag.
Bereits vor zwei Wochen hatte Außenminister Wang Yi eine neunköpfige Delegation der Taliban unweit von Peking in Tianjin empfangen. Das Ausrollen des roten Teppichs belohnten die Taliban mit dem Versprechen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen zu wollen. Soll heißen: Keine islamistischen Extremisten aus der Westprovinz Xinjiang zu unterstützen.
Zuversichtlich mit Bezug auf die Taliban gibt sich die Türkei. Die Mitteilungen der Islamisten seit der Machtübernahme seien positiv, erklärte der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu. Sein Land befinde sich in Gesprächen mit allen afghanischen Kräften.
In Europa fordert Großbritannien pragmatische Beziehungen zu den neuen Machthabern in Afghanistan. Außenminister Dominic Raab erklärte, man müsse sich mit der neuen Realität auseinandersetzen. Es gehe darum, einen positiven Einfluss auf das "neue Regime" auszuüben.
Genau hinschauen
Ähnlich denkt auch Afghanistan-Kenner Nachtwei. Man müsse bei den Taliban sehr genau und sehr differenziert hinschauen, "um dann entscheiden zu können: Gibt es da pragmatische Kräfte, die Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung, oder sind es hardcore-Käfte, die einfach ihre Ideologie durchsetzen wollen?"
Die nächsten Tage werden entscheidend sein. In Afghanistan, wo sich zeigen wird, ob sich die Taliban an ihre Zusagen halten - besonders in Bezug auf Menschen- und Frauenrechte. Und in den Hauptstädten der Welt, wo um die Frage gerungen wird, ob und wenn ja: welchen Dialog man mit den Taliban aufnehmen kann.