Merkel fordert eine Entscheidung
17. Februar 2016Hat sie es satt, immer weiter in die Ecke gedrängt zu werden? Oder folgt Angela Merkel nur konsequent ihrem lange bekannten Zeitplan? Angela Merkel hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel am Donnerstag und Freitag für sie eine Zäsur bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise darstellt. Tatsächlich aber ist für die Kanzlerin mit dem Gipfel der Punkt gekommen, an dem eine grundsätzliche Entscheidung fallen muss.
"Sind wir mit unserem europäisch-türkischen Ansatz auf der Grundlage der EU-Türkei-Agenda, die wir am 29. November letzten Jahres gemeinsam beschlossen haben, zur umfassenden Bekämpfung der Fluchtursachen und zum Schutz der Außengrenzen so weit vorangekommen, dass es sich lohnt, diesen Weg weiterzugehen, weil mit ihm die illegale Migration spürbar eingedämmt werden kann, was die entscheidende Voraussetzung für legale Kontingente ist?", fragte Merkel im Deutschen Bundestag in Berlin.
"Oder müssen wir aufgeben und stattdessen, wie jetzt manche vehement fordern, die griechisch-bulgarisch-mazedonische Grenze schließen, mit allen Folgen für Griechenland und die Europäische Union insgesamt?", umriss sie die Alternative.
Merkel will kämpfen – bis zuletzt
Es verstehe sich von selbst, dass sie ihre Kraft darauf verwende, "dass sich der europäisch-türkische Ansatz als der Weg herausstellt, den es weiter lohnt zu gehen", sagte Merkel, die keinen Hehl daraus macht, dass sie ihren Standpunkt nach wie vor für grundsätzlich alternativlos hält. Die EU müsse alles daran setzen, die Probleme so zu überwinden, dass nicht Europa und im Ergebnis alle Mitgliedstaaten Schaden nähmen. Die Frage danach, ob es sich lohne, den Weg weiter zu gehen oder aufzugeben, sei aber die "Bewertungssituation" für die Zwischenbilanz, die die Kanzlerin nach dem Rat vornehmen wolle und werde.
Es geht jetzt um alles oder nichts. Die Kanzlerin spricht von einer historischen Bewährungsprobe für die EU. Sie werde weiter dafür kämpfen, die Flüchtlingszahlen dadurch zu senken, dass bei den Fluchtursachen angesetzt werde und die Außengrenzen der Europäischen Union gesichert würden, so Merkel. "Wir müssen lernen als EU, auch maritime Grenzen zu schützen und das ist schwieriger, als Landgrenzen zu schützen." Das gehe aber nur im Ausgleich und im Gespräch mit den Nachbarn, sagte sie mit Blick auf die Türkei. "Wer nur mit Abschottung reagiert und sagt, wer auch immer hinter dem Zaun sitzt, der interessiert uns nicht, das kann nicht die europäische Antwort sein, jedenfalls nicht nach meiner festen Überzeugung."
Nicht lächerlich machen
Die Kanzlerin lässt sich in ihrer Meinung weiterhin nicht beirren, das wurde in ihrer 26-minütigen Regierungserklärung im Parlament klar. Grundsätzlich fühlt sie sich dabei von den Deutschen auch unterstützt. "Trotz aller kritischen Umfragen: Über 90 Prozent der Bürger sagen nach wie vor: Wer vor Terror, Krieg und Verfolgung flieht, soll in Deutschland die Möglichkeit der Aufnahme und des Schutzes haben. Ich finde das wunderbar."
Andererseits weiß Merkel aber auch um ihre Grenzen. Zu viele EU-Länder haben ihr bereits den Rücken gekehrt. Ihr Plan, Flüchtlinge nach Kontingenten auf die EU zu verteilen, ist tot. Deswegen wird er in Brüssel ausgeklammert. "Erfolg oder Misserfolg dieses Rates entscheiden sich wahrlich nicht an der Frage der Kontingente", so Merkel. "Wir machten uns in Europa auch lächerlich, nach den 160.000, die wir vereinbart haben, die noch nicht einmal ansatzweise verteilt sind, am Freitag obendrauf Kontingente zu beschließen." Das wäre der zweite Schritt vor dem ersten, sagte die Bundeskanzlerin.
Kontroverse im Parlament
Knapp eineinhalb Stunden dauerte die auf die Regierungserklärung folgende Aussprache im Parlament. Für den Koalitionspartner SPD machte deren Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann deutlich, dass die Sozialdemokraten Merkels Verhandlungslinie für den anstehenden EU-Gipfel mitträgt. Das Konzept der Kanzlerin sei "immer noch richtig". Zahl und Geschwindigkeit, mit der die Flüchtlinge ins Land kommen, müssten deutlich reduziert werden. "Zur Wahrheit gehört aber auch, die Koalition der Willigen ist zurzeit nicht groß", meinte Oppermann. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass EU-Länder sich nach dem Motto "Rette sich, wer kann" vom Acker machten: "Durch nationale Alleingänge wird nichts, aber auch gar nichts in Europa besser."
Das ist auch Meinung der Linkspartei, die allerdings nicht mehr davon ausgeht, dass es in der Flüchtlingskrise eine europäische Lösung geben wird. Wie zu hören sei, habe Merkel "dieses Anliegen selbst aufgegeben", sagte Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht nach der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin. Deutliche Kritik äußerte Wagenknecht an den Verhandlungen der EU mit der Türkei. "Auch wir wissen, dass es in der Außenpolitik unvermeidlich ist, auch mit unangenehmen Regimen zu reden", so Wagenknecht. "Es gibt aber einen Unterschied zwischen Reden und Hofieren."
Es sei irrational, auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu setzen. Der habe sich durch seine "blutige Politik gegen die Kurden im eigenen Land und mit seiner Unterstützung von islamistischen Terrorbanden in Syrien" selbst diskreditiert. "Die Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnis unter Oberaufseher Erdogan, der Europa grenzenlos erpressen kann, weil er immer den Schlüssel zu diesem Gefängnis in der Tasche behält, das ist doch keine Lösung, das ist eine moralische Bankrotterklärung", so Wagenknecht.
Zweites Thema: Brexit
Bevor sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel am Freitag mit der Flüchtlingskrise beschäftigen, steht am Donnerstag zunächst das drohende Ausscheiden Großbritanniens auf der Gipfel-Agenda. Im Juni sollen die Briten in einem Referendum über einen "Brexit" entscheiden. Um ihn zu verhindern, will der britische Premier David Cameron eine Reihe von Reformen in der EU durchsetzen, darunter eine "Notbremse" bei Sozialleistungen für EU-Arbeitsmigranten und mehr Mitspracherecht der Nicht-Euro-Länder bei Euro-Entscheidungen.
Forderungen, bei denen Cameron die deutsche Kanzlerin auf seiner Seite hat. "Es handelt sich bei den Anliegen David Camerons keineswegs nur um britische Einzelinteressen", sagte Merkel im Bundestag. "Bei einigen Fragen muss man sagen: ganz im Gegenteil." Auch sie halte es für notwendig, dass sich die EU mehr um Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Bürokratieabbau einsetze. Auch dürfe, wer den Euro nicht habe, bei grundsätzlichen Entscheidungen der Euro-Länder nicht übergangen werden.
Allerdings dürfe bei der Diskussion um Fehlanreize in den europäischen Sozialsystemen weder die Freizügigkeit in der EU infrage gestellt werden, noch dürften EU-Bürger diskriminiert werden. "Diese beiden Prinzipien stehen nicht zur Disposition", so Merkel.