Wir Journalisten sind oft abgebrühte Typen. Gefühle haben im Alltagsgeschäft keinen Platz und grundsätzlich ist das ja auch richtig so. Unsere Aufgabe ist es, zu beobachten und zu analysieren, Meinungen gegenüberzustellen und einzuordnen, Versäumnisse und Fehler zu benennen. Im Angesicht von Tragödien sind aber auch Journalisten nur Menschen.
Eine Kollegin war kürzlich auf einer Intensivstation, um sich ein Bild von der immer dramatischer werdenden Lage in den Krankenhäusern zu machen. In der Redaktion berichtete sie anschließend, sie habe sich erstmal fassen und das Gesehene auch für sich verarbeiten müssen. Die Krankenschwester und die Ärztin, mit denen sie sprechen konnte, weinten während des Interviews, so verzweifelt sind sie inzwischen.
Aus dem Leben herausgerissen
Wohlgemerkt: Da brechen Menschen in Tränen aus, die jeden Tag mit Leid konfrontiert sind und von Berufs wegen an den Tod gewöhnt sind. Doch jetzt sterben ihnen Menschen unter den Händen weg, die vollkommen gesund waren, bevor sie sich mit dem Coronavirus infizierten und die noch viele Jahre hätten leben können.
Mehr als 200 Tote sind es derzeit jeden Tag, Tendenz steigend. Bis Weihnachten werden es so viele sein, dass es vielerorts ein Fest der Trauer werden wird. Viele geliebte Menschen werden fehlen, herausgerissen aus ihrem bis vor kurzem noch intakten Leben und dem ihrer Familien.
Die meisten werden sterben, weil sie auf eine Corona-Schutzimpfung verzichtet haben. Weil sie Zweifel hatten, meinten, der Impfstoff könne auch schädlich sein, weil sie sich dem Druck, sich impfen zu lassen, nicht beugen wollten. Auf jeden Fall haben sie gedacht, dass eine Infektion schon nicht so schlimm werden würde.
Misstrauisch und aggressiv
Im November 2021 steht Deutschland schlechter da als vor einem Jahr. Obwohl wir mit dem Impfstoff den Schlüssel zur Lösung in der Hand haben. Die Impfquote liegt unter 70 Prozent, in Sachsen und Bayern sogar weit darunter. Warum gibt es ausgerechnet in Deutschland so viele Impfverweigerer? Querdenker nennen sie sich, drücken mit dieser Bezeichnung aus, dass sie sich gegen den Staat, gegen die Politik, gegen die Medien, gegen die Mehrheitsgesellschaft (quer-)stellen. Warum ist das Misstrauen so groß, das dazu aggressiver wird und eine enorme Sprengkraft für die Gesellschaft hat?
Die eine, klare Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Eine Mitverantwortung trägt aber die Politik. Seit dem Ausbruch der Pandemie wirkte sie oft getrieben, unsicher und mutlos. Die Bundesländer, die für den Infektionsschutz zuständig sind, waren sich zu oft nicht einig. Als Konsequenz wurden Kompetenzen an die Bundesregierung übertragen. Das half etwas. Doch dann stand die Bundestagswahl an.
Auch Impfgegner sind Wähler
Im Sommer, als andere europäische Länder in weiser Voraussicht auf den Herbst und den Winter für erste Berufsgruppen eine Impfpflicht erließen, duckten sich in Deutschland alle Parteien weg. Aus Angst davor, potenzielle Wähler zu verprellen oder in die Arme der rechtspopulistischen AfD zu treiben, wo Querdenker und Impfgegner ausdrücklich hofiert werden.
Es werde keine Impfpflicht geben, versprachen die Wahlkämpfer unisono. Aus der Nummer kommen sie nun kaum noch raus. Also wird versucht, die Ungeimpften auszusperren. Die Ministerpräsidenten, die nach vielen Monaten erstmals wieder mit der noch amtierenden Bundeskanzlerin über die Corona-Lage diskutierten, setzen auf 2G und 2G Plus. In der ersten Variante haben an vielen Orten nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt, in der zweiten Variante müssen sie auch noch frisch getestet sein.
Die epidemische Notlage ist nicht vorbei
Als wenn das die Lösung wäre. Das sind doch nur Ausschnitte aus dem alltäglichen Leben. Von der sogenannten Grundversorgung kann niemand ausgeschlossen werden. Alle gehen einkaufen, müssen zur Arbeit, wo 3G gelten soll, also Zutritt für Geimpfte, Genesene und Getestete. Das ist auch für den öffentlichen Nahverkehr vorgesehen. Doch wer soll das kontrollieren? Haben SPD, Grüne und FDP, die zukünftig zusammen regieren wollen und mehrheitlich für das neue Infektionsschutzgesetz gestimmt haben, darüber nachgedacht?
Ein Infektionsschutzgesetz übrigens, das das bisherige Gesetz zur epidemischen Notlage von nationaler Tragweite ablöst. Das war juristisch nicht mehr haltbar, weil inzwischen die Mehrheit der Menschen geimpft sind. Die Notlage hat sich trotzdem nicht geändert und so hätte man es politisch auch kommunizieren müssen. Wurde es aber nicht. Stattdessen wurde betont, dass das neue Gesetz weniger Einschränkungen mit sich bringen werde. Nachgeschärft wurde es erst, als die Infektionszahlen stiegen. Da war der Ruf aber bereits ruiniert.
Impfpflicht - sofort und für alle!
Fakt ist, dass mit dem Gesetz Zuständigkeiten vom Bund an die 16 Bundesländer zurückgegeben werden. Die Konsequenz wird sein, dass es erneut keine einheitliche Linie mehr gibt, sondern eine Kakophonie der Meinungen und erneut endlose Diskussionen über den richtigen Weg in der Pandemie. Dabei steht der doch fest: Es ist die Impfung. Der Stoff ist reichlich vorhanden, allein der Wille fehlt.
Wann wird die Politik begreifen, dass Appelle nicht weiter fruchten und Selbstverantwortung nicht reicht? Es gibt nur eine Lösung gegen den Egoismus und die Gleichgültigkeit mancher Bürger: eine Impfpflicht. Für das Gesundheitswesen und die Altenpflege wollen die Ministerpräsidenten sie nun, doch das reicht nicht. Alle müssen in die Pflicht genommen werden.
Doch dafür fehlt es an politischem Mut. Natürlich würde auch eine Impfpflicht die vierte Welle jetzt nicht mehr aufhalten. Nichts kann sie noch aufhalten. Bis Weihnachten werden einige weitere tausend Menschen an oder mit COVID-19 gestorben sein. Aber wenn sich nichts ändert, wird nach der vierten auch noch die fünfte Welle und die sechste kommen. Nur geimpft - und immer wieder aufgefrischt - können wir sie brechen. In der Hoffnung, dass wir Weihnachten 2022 besser dastehen und endlich aus unseren Fehlern gelernt haben.