Mein Tokio 2020: Medaille mit zwei Seiten
8. August 2021"Was werden Sie eigentlich in Tokio machen?" Gute Frage, gestellt vor meiner Abreise. Die Vorbereitung auf diese Olympischen Spiele war voller Unsicherheiten. Das war für Journalisten wie mich, die nach Japan reisen würden, nicht anders. Würden wir uns in der Stadt bewegen können? Würden wir mit Menschen sprechen können? Würden wir überhaupt zu den Wettkämpfen selbst kommen können?
Soll ich überhaupt fahren?
Doch Moment! Zunächst mussten wir uns durch eine Reihe von Tokio-2020-Systemen und -Apps navigieren. Etwa die Hälfte schien tatsächlich zu funktionieren. Die Angst, am Flughafen wegen eines nicht angekreuzten Kästchens zurückgewiesen zu werden, war in den Wochen vor der Abreise zum Greifen nah.
"Was werden Sie eigentlich in Tokio machen?" Als mein Arzt mir eben jene Frage stellte, in dem Moment, als er mir meinen COVID-19-Impfstoff verabreichte, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Was mir alles durch den Kopf schwirrte: Sollte ich überhaupt nach Tokio fahren, wenn die Japaner selbst von den Wettbewerben ausgeschlossen blieben? Sollten die Spiele überhaupt stattfinden?
Um einmal ein Ergebnis vorweg zu verraten: Die meisten Hindernisse wurden überwunden - einige relativ leicht, andere mit einigen Schwierigkeiten und einer kaum zu glaubenden Menge an Deodorant. Aber ich muss auch sagen, dass ich auch zur Schlussfeier immer noch keine eindeutige Antwort auf diese letzte Frage habe.
Die Rolle von COVID-19
Die Zahl der Corona-Fälle ist hier während der Spiele explodiert und hat in Tokio seit Beginn der Olympischen Spiele einen Rekordwert erreicht. Die hingegen relativ niedrige Zahl der Fälle unter den Mitwirkenden und die Tatsache, dass die Zahl der Fälle schon rapide anstieg, bevor die meisten von uns in Tokio angekommen waren, lässt eine Vermutung zu: Es hat eher mit der Delta-Variante zu tun als mit dem Zustrom von Ausländern.
Doch dass die Zuschauerinnen und Zuschauer ausgeschlossen wurden, ist etwas, was wirklich an der Seele der Spiele nagt. Der Anblick des leeren Fanparks, der immer noch neben der Bucht von Tokio liegt, ist brutal. Er steht für die Enttäuschung Hunderttausender von Einheimischen, die Eintrittskarten hatten. Und für die Enttäuschung von Millionen Zuschauern aus der ganzen Welt.
Von Schmerzen und Euphorie
Und die Athleten? Sportler, die ihr ganzes Leben lang für diesen Moment trainiert haben, dann aber positiv auf Corona getestet wurden, wurden herzlos eingesperrt. Andere hingegen konnten sich ihre Träume erfüllen, manche bei ihrer allerletzten Chance auf olympischen Ruhm. Wer sieht, welche Euphorie und akute körperliche Schmerzen gleichzeitig in die Gesichter der US-Schwimmerin Caeleb Dressel, der britischen BMX-Radfahrerin Bethany Shriever oder des ugandischen Hindernisläufers Peruth Chemutai eingebrannt waren, für den ändert sich vielleicht die Perspektive. Tausende von Stunden harter Arbeit hatten sich für sie gerade ausgezahlt.
Auch die Japaner selbst sind bis heute in der Frage der Spiele uneins. Bei der Eröffnungsfeier konnte ich hören, wie die Demonstranten draußen gegen die Organisatoren wetterten, die ihnen so wenig Respekt entgegenbrachten. Ich habe Proteste erlebt, als ich auf dem Weg ins Olympiastadion war, und habe Transparente gesehen mit Slogans wie: "Stoppt die Spiele! Rettet Leben, nicht die Olympischen Spiele!" Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, wurde mit deutlichen Worten aufgefordert, Japan zu verlassen.
Die Wut ist noch nicht abgeklungen. Aber ich habe auch Menschen gesehen, die für Fotos mit den Olympischen Ringen anstanden, keine 50 Meter von den Protesten entfernt. Ich habe gesehen, wie sich auf einer Brücke Menschenmassen bildeten, weil die Leute versuchten, einen guten Blick auf die BMX-Veranstaltungen zu erhaschen. In der ganzen Stadt liefen Leute mit Team-Japan-Trikots herum.
Kurz vor Beginn der Spiele sprach ich mit zwei Reiseleitern, die mir fast wortgleich antworteten: "Die Olympischen Spiele hätten wegen der Pandemie abgesagt werden müssen", waren sie sich einig. "Aber jetzt, wo sie stattfinden, werde ich mir wahrscheinlich etwas davon ansehen." Widersprüchlich? Oder sogar heuchlerisch?
Die Logik der Spielsüchtigen
Klar ist: Keiner dieser Punkte wurde von den Verantwortlichen mit der gebührenden Ernsthaftigkeit behandelt. Das IOC behauptet großspurig, es wolle die Welt zusammenbringen und den Athleten ihre großen Momente bescheren. Aber in Wahrheit ging es bei der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Tokio vor allem um Geld. Der überwiegende Teil der IOC-Einnahmen stammt aus Übertragungs- und Sponsoringverträgen im Zusammenhang mit den Sommer- und Winterspielen. Das ist der Grund, warum wir alle hier sind.
Die japanische Regierung starrte hingegen auf Milliarden an vergeudeten Investitionen und offene Rechnungen im Falle einer Absage. Sie folgte der Logik von Spielsüchtigen. Irgendwann muss man doch Glück haben. Und bis zu einem gewissen Grad ging diese Logik auf. Zweifellos hat die rekordverdächtige Leistung des Gastgeberlandes im Medaillenspiegel dazu beigetragen, dass sich die Einheimischen auf das Positive konzentrieren.
Doch die Kluft zwischen der Wahrnehmung der Athleten und der Funktionäre wird immer größer. Dies wurde durch die schwerfällige, zögerliche Reaktion des IOC auf den Fall der Sprinterin Kristina Timanowskaja deutlich, die sich weigerte, an der 4x400-Meter-Staffel teilzunehmen. Und die dann Tokio fast fluchtartig verließ, nachdem sie verhindert hatte, gegen ihren Willen nach Belarus zurückgeschickt zu werden.
Und schon stellen sich die nächsten Fragen. Was ist mit den Olympischen Winterspielen in Peking, die in nur sechs Monaten beginnen? Aufgrund der Behandlung der uigurischen Bevölkerung durch die chinesische Regierung wurden sie bereits als "Völkermord-Spiele" bezeichnet. Tokio kann fast aufatmen, aber das IOC wird in den kommenden Monaten sicher noch verschärfter unter Beobachtung stehen.
Wenn es einen Moment gibt, der die Olympischen Spiele in Tokio auf den Punkt bringt, dann war es diese Szene unmittelbar nach dem Skateboard-Finale Park der Frauen.
Gerade waren wir Zeuge einer erstaunlichen Leistung der jugendlichen Athletinnen. Und was sie noch zeigten, war Mitgefühl, Zusammengehörigkeit und eine Lebensfreude, die man in dem wettbewerbsorientierten Format der Spiele oft vermisst. Sie waren äußerst talentiert, authentisch und lustig.
Und ganz unten auf der Pressetribüne, wo sie für Fotos posierten und sich in ihrem Ruhm sonnten, saß Thomas Bach. Der Mann, der nach außen hin fast nur Plattitüden von sich gibt, aber intern von seinen IOC-Mitgliedern unbedingte Loyalität verlangt. Der Mann, der derzeit das Streben der olympischen Bewegung nach mehr Profit und weniger Menschlichkeit anführt. Das sind die zwei Seiten der Medaille.
Adaptiert aus dem Englischen von Marko Langer