Aus Tokio über Wien nach Warschau
4. August 2021Kein Wort zu den wartenden Reportern, dafür mit schnellem Schritt in die Flughafenhalle und hinein in den Aufzug, der sie in einen abgeschirmten Bereich des internationalen Airports Narita brachte: Der Abschied aus Tokio geriet für die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja zu einer halb-geheimen Kommandosache. Seit Sonntag ist die 24-Jährige die bekannteste Olympiateilnehmerin ihres Landes, ohne dass sie überhaupt an ihrem 200-Meter-Lauf teilgenommen hätte. Und ihre Mannschaftsleitung hätte es sicher begrüßt, wenn die junge Frau diese Prominenz nie bekommen hätte.
Still und leise und vor allem gegen ihren Willen sollte die Sprinterin eigener Darstellung zufolge nach Belarus zurückgeschickt werden. In das Land, in dem Machthaber Alexander Lukaschenko Oppositionelle einsperren lässt - und in dem mit kritischen Sportlern nicht anders umgegangen würde. Timanowskaja hatte in Tokio kritisiert, dass sie ungefragt in die 4 x 400-Meter-Staffel gesteckt werden sollte. Aus der internen Kritik wurde ein Eklat. Der "Bild" sagte die Sprinterin, es sei ihr nicht um Politik gegangen. "Ich habe nur kritisiert, dass unsere Chef-Trainer über das Staffellauf-Team entschieden haben, ohne sich mit den Sportlern zu beraten", wurde sie von dem Blatt zitiert. "Dass das solche Ausmaße annehmen und zu einem politischen Skandal werden kann, hätte ich nie gedacht."
Die vergangenen Tage hatte die Sportlerin in der polnischen Botschaft in Tokio verbracht, nachdem sie sich hilfesuchend an die Polizei am Flughafen der japanischen Hauptstadt und auch an das Internationale Olympische Komitee (IOC) gewandt hatte. Polen stellte Timanowskaja ein Visum in Aussicht - und die Möglichkeit, dort ihre sportliche Karriere fortsetzen zu können.
Neue Destination
Wegen Sicherheitsbedenken, so berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Vertraute der Sportlerin, änderten Konsulatsbeamte kurzfristig die Reiseroute. Neue Destination: Wien. Von dort aus ging es weiter nach Polen. Veröffentlichen wollte man die genaue Reiseroute vielleicht auch deshalb nicht, weil man sich an das Schicksal des belarussischen Bloggers und Oppositionellen Roman Protassewitsch erinnert. Dessen Ryan-Air-Maschine wurde von den Behörden seines Heimatlandes schlicht zur Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Protassewitsch landete im Gefängnis und musste vor TV-Kameras Huldigungen für den Präsidenten vortragen. Zuletzt hieß es, der junge Mann sei in Hausarrest.
Im Fall Timanowskaja hat das IOC derweil ein Disziplinarverfahren gegen das Nationale Olympische Komitee aus Belarus eingeleitet. IOC-Sprecher Mark Adams erklärte, dass Leichtathletik-Coach Juri Moisewitsch und Funktionär Artur Schumak zu der Angelegenheit befragt werden sollen. Das IOC war schon vor Monaten auf Distanz zum Regime in Belarus gegangen, was für die olympischen Funktionäre schon ein ungewöhnlicher Schritt ist. Präsident Lukaschenko, der bis dahin dem NOK seines Landes vorstand, wurde angesichts des gewaltsamen Vorgehens gegen die Opposition von den Spielen ausgeschlossen. Doch der Posten blieb in der Familie. Oberster Sportfunktionär in Belarus ist nun Wiktor Lukaschenko, der Sohn.
Die Leichtathletin darf man somit durchaus als gefährdet einschätzen. In Warschau wird derweil auch der Ehemann der Sportlerin, Arseni Zdanewitsch, erwartet, wie es in Kreisen der Opposition hieß. Der stellvertretende polnische Außenminister Marcin Przydacz teilte auf Twitter mit, die junge Frau sei weiterhin in der Obhut des diplomatisches Dienst seines Landes. Der Chefdiplomat hätte auch sagen können: Damit hier niemand auf krumme Gedanken kommt.