3000 Festnahmen bei Nawalny-Protesten
23. Januar 2021Zehntausende Menschen haben in Russland für eine Freilassung des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny demonstriert. Allein in Moskau versammelten sich nach Schätzungen von Reportern mindestens 40.000 Anhänger des Oppositionspolitikers zu einer der größten unerlaubten Demonstrationen seit Jahren. Das Innenministerium sprach von lediglich 4000 Demonstranten im Zentrum der Hauptstadt. Nawalny hatte seine Anhänger zu den Demonstrationen aufgerufen.
Die Polizei ging vielfach gewaltsam gegen die Proteste in rund 100 Städten vor und nahm nach Angaben der Beobachtergruppe OVD-Info landesweit 3068 Menschen fest, davon allein 1167 in Moskau und 460 in St. Petersburg. Unter den Festgenommenen in Moskau war auch Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja, wie sie mitteilte. Wenige Stunden später wurde sie laut Medienberichten wieder freigelassen. Seine Mutter Ljudmila nahm ebenfalls an der Demonstration teil.
Wunsch nach Veränderung
Unter den Demonstranten waren viele junge Leute und Angehörige der Mittelschicht. Aktivisten und Journalisten beklagten eine Drosselung des Internets. In sozialen Netzwerken kursierten Videos von Sicherheitskräften, die Demonstranten mit Schlagstöcken attackierten. Viele der Kundgebungsteilnehmer einte der Wunsch nach gesellschaftlichen und politischen Änderungen in ihrem Land. "Eine unehrliche Regierung, niedrige Löhne, kein Einkommen, keine Rechte. Nichts", klagte eine Frau mittleren Alters im Gespräch mit Reportern der Deutschen Welle. "Ich bin weder für Nawalny noch gegen Putin. Es ist mir egal, wer an der Macht ist. Ich will nur wie ein Mensch leben", sagte sie zu ihren Beweggründen, an der Demo in Moskau teilzunehmen. Zwei Männer um die 30 stellten resigniert fest: "Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es um alles oder nichts geht. Wir kämpfen in erster Linie für unsere Zukunft. Das ist unser einziges Ziel."
Festnahmen vor Nawalnys Haftanstalt
Festgenommen wurden auch mehrere Demonstranten, die sich vor dem Gefängnis versammelt hatten, in dem Nawalny festgehalten wird. Nach der Kundgebung im Stadtzentrum waren Hunderte Menschen mehr als eine Stunde zum berüchtigten Untersuchungsgefängnis Nummer eins im Nordosten von Moskau gelaufen.
Schon vor Beginn der Kundgebung in der Hauptstadt griffen die Sicherheitskräfte massiv durch. Etliche Teilnehmer wurden weggetragen. Auch Nawalnys enge Mitarbeiterin Ljubow Sobol wurde festgesetzt. In den vergangenen Tagen hatten die Behörden bereits mehrere Mitstreiter des Oppositionellen in Gewahrsam genommen, darunter seine Pressesprecherin Kira Jarmysch.
Etwa 2000 Menschen demonstrierten im Zentrum von St. Petersburg. Dort gab es mehr als 300 Festnahmen. Im nordrussischen Jaktustk trotzten Demonstranten extrem winterlichen Temperaturen von minus 50 Grad und gingen für Nawalnys Freilassung auf die Straße. Die Opposition kündigte für das kommende Wochenende neue Proteste an.
"Putin ist ein Dieb!"
Wegen der Zeitverschiebung hatten die Demonstrationen im Osten des Landes begonnen. Videoaufnahmen aus Wladiwostok an der Pazifikküste zeigen Einsatzkräfte, die eine Gruppe von Demonstranten durch die Straßen jagen. In Chabarowsk versammelten sich zahlreiche Menschen bei Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt. Sie riefen "Schande!", "Banditen!" und "Putin ist ein Dieb!".
Die Behörden hatten Demonstrationen mit Verweis auf die Corona-Pandemie untersagt. Teilnehmern drohen empfindlichen Strafen.
Proteste auch im Baltikum
Auch in Estland forderten mehrere Hundert Menschen die Freilassung des inhaftierten Kreml-Kritikers. Bei Kundgebungen in der Hauptstadt Tallinn und der estnisch-russischen Grenzstadt Narva brachten die Teilnehmer mit Schildern und Sprechchören ihre Solidarität und Unterstützung zum Ausdruck. In dem baltischen EU-Staat im Nordosten Europas lebt eine große russische Minderheit.
"Navalny verkörpert absoluten Mut und stellt den einzelnen Bürger vor der Stärke des Machtapparats wieder her. Er verdient Respekt und Unterstützung", sagte Sergei Metlev, einer der Organisatoren der Kundgebung in Tallinn. "Es ist uns nicht egal, dass die Behörden in unserem Nachbarland so brutal Menschenleben missachten."
Demos in Berlin und Düsseldorf
Auch in Deutschland zeigten Bürger Solidarität mit Nawalny. Im der Hauptstadt Berlin kamen rund 2000 Menschen zusammen. Ihr Protestzug "Freiheit für Nawalny" zog an der russischen Botschaft vorbei und endete vor dem Brandenburger Tor. Auch in Düsseldorf demonstrierten auf dem Marktplatz 200 Menschen für Nawalny. Nach Angaben der Polizei war die Kundgebung zunächst mit 100 Teilnehmern angemeldet worden.
Heftige Kritik der EU
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell übte scharfe Kritik am Vorgehen der russischen Behörden gegen die Demonstrationen. Er bedauere die zahlreichen Festnahmen, den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und die Einschränkung von Internet- und Telefonverbindungen, teilte Borrell in Brüssel mit. Er werde am Montag mit den Außenministern der EU-Staaten über die nächsten Schritte der EU beraten.
USA verurteilen hartes Vorgehen gegen Demonstranten
Die neue US-Regierung hat die "harschen Methoden" der russischen Sicherheitskräfte im Umgang mit Demonstranten und Journalisten verurteilt und die Freilassung aller Festgenommenen gefordert. Das Washingtoner Außenministerium erklärte, die USA stünden Schulter an Schulter mit ihren Verbündeten und Partnern, um die Menschenrechte zu verteidigen. Das Ministerium forderte die "sofortige und bedingungslose Freilassung" Nawalnys.
Am vergangenen Sonntag war Nawalny nach längerer medizinischer Behandlung aus Deutschland zurückgekehrt. Er wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in Moskau festgenommen und in einem Eilverfahren zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt. Nawalny und seine Unterstützer sehen das Vorgehen der Justiz politisch motiviert. Die Behörden begründen die Haft mit einem angeblichen Verstoß gegen Meldeauflagen.
Der 44-jährige Oppositionspolitiker war im August laut Befunden mehrerer westlicher Labore mit einem Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden. Er selbst macht hierfür Putin und den Inlandsgeheimdienst FSB verantwortlich. Der Kreml bestreitet jede Beteiligung an der Attacke.
"Maximale Sichtbarkeit"
Nawalnys enger Verbündeter Leonid Wolkow sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Straßenproteste seien in Russland "das einzige Mittel, jemanden aus dem Gefängnis herauszubekommen". Es sei zudem schon vorgekommen, dass russische Oppositionelle zweimal hintereinander vergiftet worden seien. Deshalb bestehe "der einzige Schutz" für Nawalny in "maximaler Sichtbarkeit und Unterstützung in der Bevölkerung".
Das Team des Kreml-Gegners hatte Anfang der Woche unter dem Titel "Ein Palast für Putin" ein Enthüllungsvideo veröffentlicht, das beweisen soll, dass der Präsident sich aus Schmiergeldern ein riesiges Luxusanwesen am Schwarzen Meer bauen ließ. Der fast zweistündige Film hatte nach wenigen Tagen mehr als 65 Millionen Aufrufe auf Youtube. Das Präsidialamt bezeichnet die Anschuldigungen als "Lüge" und "Unsinn".
sti/jj/uh (dpa, afp, rtr)