"Nawalny weiß nicht, was draußen passiert"
22. Januar 2021In mehr als 90 russischen Städten haben Unterstützer von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, auf die Straße gehen - trotz fehlender Genehmigungen und teils offener Warnungen russischer Sicherheitsbehörden. Der bekannteste Oppositionelle und Kremlkritiker wurde nach seiner Rückkehr aus Deutschland am 17. Januar verhaftet und zunächst bis zum 15. Februar in Untersuchungshaft genommen.
Die Behörden wollen eine Bewährungsstrafe gegen den Oppositionellen nachträglich in eine Haftstrafe umwandeln. Dabei geht es um den Fall "Yves Rocher": Nawalny und sein Bruder Oleg wurden beschuldigt, die russische Tochterfirma des französischen Kosmetikkonzerns betrogen zu haben. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam 2017 zum Schluss, dass der Prozess unfair und das Urteil der russischen Richter willkürlich gefällt worden sei.
Ende Dezember 2020 wurde gegen ihn ein neues Strafverfahren eingeleitet - wegen angeblicher Veruntreuung von Spendengeldern für seinen "Fonds zur Bekämpfung der Korruption" (FBK). Einen Tag vor den Aktionen zur Unterstützung Nawalnys hat die DW mit seiner Anwältin Olga Michajlowa gesprochen.
Deutsche Welle: Frau Michajlowa, wann haben Sie Alexej Nawalny zuletzt gesehen und wie geht es ihm?
Olga Michajlowa: Ich habe ihn zuletzt gestern (am 21. Januar, Anm. d. Red.) im Untersuchungsgefängnis gesehen. Er ist in einem völlig normalen Zustand. Er beklagt nur ein Informationsvakuum, denn er weiß nicht, was draußen um ihn herum passiert. Er hat zwar einen Fernseher, aber die Anzahl der Sender ist begrenzt, und diese berichten nicht, was tatsächlich im Land vor sich geht. Seine Haftbedingungen - darüber ist schon viel gesagt worden - sind bislang normal.
Sitzt Nawalny in Einzelhaft oder teilt er sich eine Zelle mit jemandem?
Er befindet sich in einer Spezialabteilung des Moskauer Untersuchungsgefängnisses Matrosskaja Tischina (zu deutsch: "Matrosenruhe"). Er befindet sich allein in seiner Zelle und für etwa zwei Wochen in Quarantäne. Die Zelle ist warm und sauber. Die Bedingungen sind wohl mehr oder weniger in Ordnung.
Im August 2020 wurde auf Nawalny in Russland ein Giftanschlag verübt. Braucht er medizinische Hilfe?
Im Grunde genommen hat er alle physiotherapeutischen und alle anderen Behandlungen durchlaufen. Derzeit benötigt er keine spezielle medizinische Hilfe. Das einzige ist, dass er Sehstörungen bekommen hat. Deshalb verlangen wir eine augenärztliche Untersuchung.
Es gibt mehrere Anklagen gegen Nawalny. Welche könnte die mit den gravierendsten Folgen sein?
Da noch viel passieren kann, will ich nicht spekulieren. Bei der nächsten Gerichtsverhandlung im Fall "Yves Rocher" will man die Bewährungsstrafe von dreieinhalb Jahren in eine Haftstrafe umwandeln. Berücksichtigt werden soll, dass Alexej in dieser Sache fast ein Jahr lang unter Hausarrest stand. Entsprechend droht ihm eine Haft von zweieinhalb Jahren.
Arbeitet Nawalny neben Ihnen auch mit ausländischen, vielleicht deutschen Anwälten zusammen?
Im gegebenen Fall können ausländische Anwälte auf dem Territorium der Russischen Föderation nicht tätig werden. Zurzeit hat er zwei Anwälte - mich und Wadim Kobsew.
Nawalny hat vor Gericht die Menschen aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Die für den 23. Januar geplante Aktion ist jedoch nicht genehmigt worden. Liegt dazu eine Reaktion der Behörden vor?
Mir ist keine bekannt.
Weiß Nawalny, dass derzeit landesweit seine Anhänger massiv eingeschüchtert und viele festgenommen werden?
Ich habe ihm davon berichtet und auch erzählt, dass zum Zeitpunkt meines Besuchs bei ihm sein Video über "Putins Palast" auf Youtube bereits mehr als 44 Millionen Abrufe hatte. Er war überrascht und sehr glücklich darüber.
Bedeutet die Quarantäne, dass Nawalny nicht verhört werden kann und auch keine Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt werden können?
Derzeit wird nichts durchgeführt. Er sitzt einfach in seiner Zelle. Er wird nicht weggebracht und es kommt auch niemand zu ihm - außer dem Psychologen und den Leuten, die in den ersten Tagen Häftlinge aufsuchen.
Bekommt Nawalny im Gefängnis irgendwelche Informationen von außen?
Er hat keinen einzigen Brief erhalten. Soweit ich weiß, werden von dieser Haftanstalt keine Briefe mehr angenommen beziehungsweise keine mehr an sie zugestellt. Auch die Briefe von Angehörigen, die in den ersten Tagen nach seiner Verhaftung abgeschickt wurden, sind nicht bei ihm angekommen.
Werden Nawalnys Frau oder seine Angehörigen Alexej nach Ablauf der Quarantäne besuchen können?
Nein, außer einem Anwalt darf ihn niemand besuchen. Das ist während der Pandemie generell verboten. Wenn die Pandemie-Maßnahmen irgendwann wieder aufgehoben werden, wird man bei ihm vielleicht auch Besuche Angehöriger gestatten. Derzeit ist das aber in allen Untersuchungsgefängnissen in Moskau untersagt.
Olga Michailowa ist die Anwältin von Alexej Nawalny. Sie war mit an Bord der Maschine, mit der der Oppositionspolitiker aus Berlin nach Moskau zurückgekehrt ist. Schon mehrfach hat sie Nawalny auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten.
Das Gespräch führte Viacheslav Yurin.