Die stille Heldin an Nawalnys Seite
20. Januar 2021Sonntagabend am Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Es sind vielleicht ihre letzten gemeinsamen Minuten für eine lange Zeit. Bevor die Polizei den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny bei seiner Rückkehr aus Deutschland festnimmt, umarmt er kurz seine Ehefrau Julia. Zahlreiche Kameras halten fest, wie sie ihn auf die Wange küsst, mit einer fürsorglichen Geste die Spuren wegwischt und leise "Tschüss" sagt. Dann zieht sie sich die Gesichtsmaske hoch und dreht sich um. Beide wirken gefasst, fast routiniert.
Julia Nawalnaja weiß, wie es ist, sich von ihrem Ehemann Alexej verabschieden zu müssen. Der Oppositionelle wurde unzählige Male verhaftet. Eine lange Zeit hinter Gittern blieb ihm jedoch bisher erspart. Vieles deutet darauf hin, dass es dieses Mal anders sein könnte. Eine Vollzugsbehörde strebt an, seine Bewährungsstrafe aus einem früheren Urteil in eine dreieinhalbjährige Freiheitsstrafe umzuwandeln. Außerdem wurde ein neues Strafverfahren gegen ihn eingeleitet - wegen angeblicher Veruntreuung von Spenden für seine Stiftung gegen Korruption. Keine Ermittlungen gibt es dagegen im Fall seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff vom Typ "Nowitschok", für die Nawalny den russischen Inlandsgeheimdienst FSB und den Präsidenten Wladimir Putin beschuldigt. Der Kreml bestreitet das.
Rettete Julias Brief an Putin Nawalnys Leben?
"Es gibt nichts, was wir nicht geschafft hätten. Alles wird bedingungslos gut werden", schrieb Julia Nawalnaja am Montag auf Instagram. Es war die gleiche Botschaft, die sie bereits am 20. August 2020 mit ihren rund 460.000 Abonnenten geteilt hatte, als ihr Ehemann in Sibirien vergiftet worden war und beinahe gestorben wäre. Für ihr Engagement im Kampf um sein Leben erklärte die Moskauer Zeitung "Nowaja gaseta" im Dezember Julia Nawalnaja zur "Heldin des Jahres".
In Erinnerung bleibt vor allem ihr resolutes Auftreten in der Klinik der Stadt Omsk, wo ihr Mann im Koma lag, und ihr offener Brief an Putin. In einem trockenen Schreiben - ohne höfliche Anrede - forderte Julia Nawalnaja den Kremlchef auf, ihren schwer kranken Ehemann nach Deutschland ausfliegen zu lassen. Russische Ärzte waren damals dagegen. "Nowaja gaseta" bewundert "die kalte, nüchterne Würde", mit der sich die Frau durchgesetzt hatte. Putin erzählte später, dass er nach ihrem Brief tatsächlich die entsprechende Anweisung gab.
Mit ihrem bewusstlosen Mann flog Julia nach Berlin, wo er in der Charité-Klinik behandelt wurde. Als es ihm besser ging, veröffentliche Nawalny auf Instagram eine ungewöhnliche Liebeserklärung an seine Frau und beschrieb, wie rührend sie sich um ihn gekümmert und wie sehr sie ihm geholfen habe, wieder gesund zu werden. Er gratulierte ihr zum aufgrund seiner Vergiftung verpassten 20. Hochzeitstag und schloss mit den Worten ab: "Julia, Du hast mich gerettet."
Gemeinsame Leidenschaft im Kampf gegen Korruption
Vor diesem Hintergrund war es keine Überraschung, dass Nawalny in seinem ersten großen russischen Interview nach der Vergiftung gemeinsam mit seiner Ehefrau auftrat. Es wurde ein mehr als zweistündiges Gespräch mit Juri Dud, einem der aktuell beliebtesten Journalisten Russlands, der auf YouTube Millionen vor allem junge Russen erreicht. Alexej und Julia erzählten unter anderem, dass sie zurückkehren werden. "Ich habe keine Angst", sagte Julia.
In diesem Interview wirkten sie wie ein Team. Bis dahin hielt sich die Ehefrau des bekanntesten russischen Oppositionellen eher im Hintergrund, tauchte allerdings immer öfter in sozialen Netzwerken auf. Nawalny veröffentlicht gerne Fotos mit Julia und ihren Kindern – zu Hause, bei Spaziergängen in Moskau oder bei der Reha in Deutschland. Es wirkt so, als wolle der Oppositionelle auch damit einen Gegenpol zu Putin bilden, der seine Familie von der Öffentlichkeit abschottet.
Julia Nawalnaja wuchs in Moskau auf und studierte Außenwirtschaft an einer renommierten Hochschule. Bei einer Urlaubsreise lernte sie Nawalny kennen, heiratete ihn und bekam zwei Kinder. Ihre Tochter ist inzwischen erwachsen und studiert in den USA, der Sohn geht noch zur Schule. Beim Gespräch mit Dud erzählte Julia, dass das Engagement ihres Ehemanns gegen Korruption auch sie bewegt.
Große Vergleiche
Frauen wie Nawalnaja nennt man in Russland "Dekabristen-Frauen". So wurden die Ehefrauen von meist Adeligen genannt, die Anfang des 19. Jahrhunderts einen Aufstand gegen den Zaren initiierten und scheiterten. Die Aufständischen wurden nach Sibirien verbannt, ihre Ehefrauen folgten ihnen freiwillig. Doch Vorbilder gibt es auch aus der jüngsten Geschichte. "Nowaja Gaseta" vergleicht Julia Nawalnaja mit Raissa Gorbatschowa, der Ehefrau des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow, die als Politikergattin für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich häufig öffentlich auftrat.
Auch mit Swetlana Tichanowskaja, der Oppositionspolitikerin aus Belarus, wird Julia Nawalnaja in diesen Tagen verglichen. Sollte ihr Ehemann im Gefängnis landen und sich Julia Nawalnaja für eine politische Karriere entscheiden, läge bald der Vergleich noch näher. Im Herbst wird in Russland ein neues Parlament gewählt.