Lokalkonflikte und Stammesfehden in Libyen
12. Oktober 2013Am Ortseingang von Bani Walid hat jemand "Allah, Muammar, Libyen und sonst nichts" auf die Wand gekritzelt – der Kriegsruf der Gaddafi-Anhänger, der seit dem Sieg der Rebellen allgemein verpönt ist. Die Bewohner des etwa 170 Kilometer südostlich der Hauptstadt Tripolis gelegenen Bergorts betrachten sich als Verlierer der Revolution. Ihre Stadt war während und nach der Revolution Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Und auch die Privilegien der damals mehrheitlich Gaddafi-treuen Anwohner existieren nach dessen Sturz nicht mehr.
In Bani Walid überwiegen die Warfalla, der größte Stamm Libyens. Neben den Gadadfa, dem Stamm des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi, genossen die Warfalla früher besondere Macht. Über Stammesbeziehungen ist Bani Walid mit der einstigen Gaddafi-Hochburg Sirte am Mittelmeer sowie der Hauptstadt des Südwestens, Sebha, verbunden. Alle drei Orte standen 2011 mehrheitlich auf Seiten des Regimes.
Die Zerstörung ist in Bani Walid noch überall zu sehen. 2011 bombardierte die NATO die auf einem Hügel gelegene Ortschaft. Seit einer staatlich angeordneten Militäroffensive im Oktober 2012 gleicht Bani Walid erst recht einer bröckelnden Festung. Dem Angriff zugrunde lagen Spannungen mit der einflussreichen Hafenstadt Misrata, einer Hochburg der Gaddafi-Gegner.
Rache, Vergeltung und Stammeskriege
Wie zwischen Misrata und Bani Walid häufen sich im gesamten Land Lokalkonflikte. Die entstehen meist dort, wo bewaffnete Volksgruppen um Einfluss, Land und Ressourcen kämpfen. Die Übergangsregierung ist dagegen weitgehend machtlos. Auch, weil die Regierung Rebellengruppen als Ganzes in die Armee eingliederte, die sich aber weiterhin in erster Linie den Befehlen ihrer unmittelbaren Vorgesetzten und den Interessen ihres Stammes und ihrer Gemeinschaft verpflichtet fühlen.
Was mit Scharmützeln beginnt mündet oft in tagelangen Gefechten und Vertreibung. Stammesfehden können zwar Jahrhunderte zurückgehen, die ohnehin schon existierenden Spannungen hatte Gaddafi durch die Bevorteilung mancher Stämme und Ortschaften und die strategische Umsiedlung von Volksgruppen aber noch verschärft.
Nach dem Sturz und Tod Gaddafis im Oktober 2011 begannen die Rachezüge zur Vergeltung von Kriegsverbrechen. Ein Beispiel ist die ehemalige Gaddafi-Hochburg Tawargha, in der vor der Revolution etwa 30.000 Einwohner lebten. Sie wurden von ehemaligen Rebellenbrigaden aus der nahe gelegenen Nachbarnstadt Misrata verhaftet, vertrieben oder getötet. Die Stadt ist seitdem ausgestorben.
Das Begleichen offener Rechnungen aus 40 Jahren Diktatur hält den Kreislauf der Gewalt am Leben. Unter Gaddafi enteignete Grundstücke haben sich die ursprünglichen Besitzer teils gewaltsam zurückgenommen.
Auch im Südwesten Libyens – dem Fessan – ist die Verschiebung der Machtverhältnisse spürbar. Im Umkreis von Sebha wechselten ganze Ländereien die Besitzer, nachdem der Gadadfa-Stamm seine Sonderstellung verlor. Stämme wie die Awlad Suleiman, die unter Gaddafi benachteiligt waren, drängen sich in den Vordergrund.
"Hey, du tschadischer Söldner"
Viele Einwohner Sebhas fühlen sich durch die aufstrebenden Gruppen bedroht. "Rückkehrer und Eindringlinge kontrollieren den Stadtrat und erpressen die Regierung", wettert Hussein Mohamed, der als Landbesitzer der Oberschicht angehört. Er hat nicht viel für die Awlad Suleiman übrig, die er für Randalierer hält. Aber selbst die seien besser als die Tubu.
Diese ethnische Minderheit lebt über Tschad, Niger und Libyen verteilt und wird vom Großteil der Libyer als Eindringlinge angesehen. Selbst jene, die nachweislich in Libyen geboren sind, entgehen diesem Stigma nicht. "Einstellungen sind erblich. Ein Dieb kann nur weitere Diebe zeugen", meint Hussein abschätzig. Rassismus ist in Libyen verbreitet, vor allem gegenüber afrikanischen Migranten und den ebenfalls schwarzen Tubu.
"Meine Hautfarbe soll entscheiden ob ich von hier bin?" ärgert sich Sidi Kella, ein Händler aus Murzuq. "Ich bin mehr Libyer als viele Araber!" Andere kontern mit Sarkasmus. "Hey, du tschadischer Söldner", begrüßen sich zwei junge Männer.
Die Tubu versprechen sich nicht mehr viel von Mitbürgern und Staat und vertrauen vor allem ihrer seit 2011 errungenen Militärmacht. "Du konntest noch so revolutionär sein, ohne Kalaschnikow warst du nichts" erinnert sich Hassan Shaha, Brigadenkämpfer in Ubari, südwestlich von Sebha.
Die Zeit der Revolutionäre ist wohl vorüber, die der Waffen aber noch lange nicht. In Sebha kommt es regelmäßig zu blutigen Zusammenstößen zwischen Tubu und Awlad Suleiman.
Minderheiten und regionale Autonomie
Die Minderheiten – Berber, Tuareg und Tubu – drängen zusehends auf mehr Mitspracherechte und drohen zum Teil mit Gewalt, falls ihnen diese wie bislang weitgehend verwehrt bleiben. In der Debatte über Libyens neue Verfassung, über deren Grundsätze man sich nicht einig wird, haben ihre Vertreter bereits aus Wut das Parlament verlassen.
In Ghat, im Südwesten des Fessan, hielten die libyschen Tuareg-Stämme kürzlich einen Kongress ab und gründeten ein Gremium welches ihre Interessen vertreten soll. "Unsere Forderungen sind bescheiden", sagt Ghats Bürgermeister Mohamed Abdelqader. "Wir wollen, dass der Staat unsere Kultur und Sprache fördert, uns mehr Staatsposten zuteilt und unsere Region entwickelt. Aber in Tripolis interessiert man sich nicht für das Landesinnere." Ein Berber-Aktivist erzählt, es würden Pläne geschmiedet für ein Minderheitenbündnis gegen die Regierung.
In Ostlibyen treibt eine Protestbewegung die Abspaltung ihrer Region voran und fordert die Regierung durch die Blockade von Ölhäfen heraus. Im Fessan, so wird gemunkelt, braue sich Ähnliches zusammen. "Wo bleiben die Patrioten?", fragen lokale Entscheidungsträger im Fessan. Aber auch sie haben sich längst den Interessen ihrer jeweiligen Gemeinschaft verschrieben.