Porträt libyscher Premier
10. Oktober 2013Geduld hat Ali Seidan in seinem bisherigen politischen Leben immer wieder bewiesen: Während seiner über 30-jährigen Zeit im Exil, während der Gaddafi-Herrschaft, aber auch beim Aufbau Libyens nach Gaddafis Sturz.
Geduldig musste er auch sein, als er den Auftrag bekam, eine Übergangsregierung zu bilden. Sein Vorgänger Mustafa Abu Shagur war an dieser Aufgabe gescheitert. Doch mit ruhiger Hand machte sich Seidan daran, die unterschiedlichen und oft widerstrebenden Interessengruppen im Land an einen Tisch und schließlich zu einer Regierungsmannschaft zusammen zu bringen.
Seine größte Herausforderung war es, ein auch geografisch ausbalanciertes Kabinett zu präsentieren: Keine Region sei benachteiligt worden, betonte er bei der Vorstellung der insgesamt 27 Minister. Es gelang ihm außerdem, sie aus einem breiten Parteienspektrum zusammen zu stellen. Es war wohl vor allem seiner Beharrlichkeit und ruhigen Hand zu verdanken, dass die beiden größten Fraktionen im Parlament - die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufbau und die liberale Allianz der Nationalen Kräfte (AFN) - die Kabinettsliste am Ende mittrugen.
Mut zum Chaos
Die oftmals chaotischen Zustände nach vierzig langen Jahren Gaddafi-Herrschaft nahm der frühere Oppositionelle gelassen. "Jede Verzögerung hat auch ihr Gutes", zitierte er während der schwierigen Regierungsbildung ein arabisches Sprichwort: zuvor hatten junge Revolutionäre den Saal gestürmt. Ali Seidans Geduld zahlte sich aus: Im Oktober 2012 wurde er der erste frei gewählte Regierungschef Libyens. Mit 93 von 200 Stimmen setzte sich der Parteilose im Parlament gegen seinen Herausforderer Mohammed al-Hrari durch, vor allem mit Unterstützung der liberalen AFN. Sein entscheidender Vorteil sei gewesen, so der Libyen-Experte Andreas Dittmann von der Universität Gießen im DW-Gespräch, dass er schon zuvor als Gegner des alten Regimes bekannt war: "Er ist von daher eine wichtige Person, die zwar das Geschäft aus Gaddafi-Zeiten kennt, aber eigentlich erhaben ist über den Verdacht, die alten Seilschaften wieder zu etablieren."
Bei seinem Amtsantritt bezeichnete Seidan es als seine erste und wichtigste Aufgabe, eine professionelle Armee und Polizei auf die Beine zu stellen und damit die Sicherheit im Land wiederherzustellen. Und er zeigte stets seinen Willen, die libysche Revolution zur Vollendung zu führen: "Ich versichere Ihnen: Dem Willen des Volkes entsprechend, das diese Revolution in Gang gesetzt hat, werden wir Staatseinrichtungen aufbauen und die Rechtsstaatlichkeit durchsetzen", so versprach er im September 2013 während einer Generalversammlung der Vereinten Nationen. "Wir werden die Verpflichtungen unseren Nachbarstaaten gegenüber anerkennen und werden für die Förderung von Frieden und Sicherheit arbeiten".
Fragile Lage in Libyen
In den aktuellen Ereignissen um die Festsetzung und Freilassung Seidans wenige Stunden später zeigt sich aber, wie weit er von diesen Zielen entfernt geblieben und wie brüchig die Situation noch immer ist. Viele der einstigen Revolutionäre sind noch immer bewaffnet, haben häufig die Rolle von Polizeikräften übernommen. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, alte Rivalitäten zwischen den Volksstämmen brechen auf. Auch der Einfluss von Al-Kaida-Kämpfern im Land nimmt seit längerem zu. Vermutlich steht auch Seidans Festnahme in diesem Zusammenhang: Es könnte sich um eine Reaktion darauf handeln, dass der Al-Kaida-Terrorist Nasih al-Rukaji, alias Abu Anas al-Libi, vor wenigen Tagen von einem US-Spezialkommando gefangen und außer Landes gebracht worden war. Hier habe Seidan in den vergangenen Wochen einen entscheidenden Fehler gemacht, meint Andreas Dittmann: "Er hat sich nicht deutlich genug gegen amerikanische Einflussnahme in seinem Land gestellt." Dadurch habe er sich bei vielen Libyern, für die die USA nach wie vor als Feindbild gelten, unglaubwürdig gemacht.
Ali Seidans Regierung steht ohnehin seit längerer Zeit unter Druck: Im Gegensatz zu Seidan selbst haben viele Libyer die Geduld verloren. "Man hat gedacht: Gaddafi ist tot, jetzt wird alles besser. Das war natürlich naiv, aber vielen Revolutionären ging es einfach nicht schnell genug weiter." Die Opfer des Gaddafi-Regimes, aber auch die einstigen Revolutionskämpfer werfen der Regierung außerdem vor, nicht gründlich genug mit dem alten System aufgeräumt zu haben. "Und auf der anderen Seite war die Angst der Milizen, dass sie Blutzoll bezahlt haben, während die anderen hinterher die Früchte der Revolution ernten", erklärt Andreas Dittmann. Viele von ihnen fühlten sich nicht genügend in den neuen Staat eingebunden.
Bereits im Mai hatten Angehörige von Milizen Seidans Rücktritt gefordert: Seine Ministerien seien "Bastionen des korrupten Gaddafi-Regimes". Seitdem protestierten immer wieder ehemalige Aufständische vor staatlichen Einrichtungen. Dieser Frust scheint sich nun direkt an dem Mann zu entladen, von dem viele sich erhofft hatten, dass er die Fronten befrieden kann.
Hoffnungsträger in Not?
Der bisherige Lebensweg von Ali Seidan gab viel Anlass für diese Hoffnung: Die politische Karriere des 63-Jährigen begann als Diplomat, in den 1970er Jahren an der libyschen Botschaft in Indien. 1980 sagte er sich dann vom Gaddafi-Regime los, wurde vom liberalen Kritiker zum Gegner des libyschen Herrschers und seines Systems. Seidan ging ins Exil und setzte sich von Genf aus für die Beachtung der Menschenrechte in seinem Heimatland ein. Er blieb bis zum Beginn der libyschen Revolution vor zwei Jahren im Ausland, unter anderem in Irak und in Deutschland. Lange Zeit lebte er in München. Während des Arabischen Frühlings Anfang 2011 repräsentierte Seidan den oppositionellen libyschen Nationalen Übergangsrat in der westlichen Welt. Seinem Land, das hat er in all den Jahrzehnten bewiesen, blieb Ali Seidan jedenfalls immer eng verbunden, gleichgültig, in welcher Situation und in welcher Rolle er sich befand. Nun könnte er selbst Opfer der chaotischen Zustände in seiner libyschen Heimat werden, mit der er immer so viel Geduld hatte.