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Politische Wirren in Tripolis

Valerie Stocker10. Oktober 2013

Libyens Ministerpräsident wurde angeblich verhaftet, tatsächlich von Sicherheitskräften gekidnappt und am selben Tag wieder freigelassen. Welche Machtkämpfe stecken hinter dem gewalttätigen Verwirrspiel?

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Demonstranten in Tripolis fordern die Auflösung der Milizen (Juli 2013) (Foto: DW/Stocker)
Bild: Valerie Stocker

Was sich am Donnerstag (10.10.2013) in Tripolis abgespielt hat, mag wie ein bizarres Schauspiel wirken - es ist jedoch bitterer Ernst. Dass Ministerpräsident Ali Seidan in den frühen Morgenstunden entführt und Stunden später wieder freigelassen wurde, ist ein Zeichen der tiefen politischen Krise, in der sich Libyen seit der Regierungsbildung im vergangenen Jahr befindet. Dennoch versuchen Politiker, die Fassade einer funktionierenden Demokratie aufrechtzuerhalten.

Seidan war von der sogenannten "Operationszelle von Revolutionären" festgesetzt worden - angeblich im Namen der Staatsanwaltschaft. Tatsächlich untersteht diese Gruppe dem Verteidigungs- und Innenministerium - eigentlich soll sie so, wie andere ehemalige Kämpfer auch, in das neue Staatswesen eingegliedert werden. Schon in den ersten Äußerungen nach dem Ende des Kidnappings traten die machtpolitischen Frontlinien deutlich zutage: Nuri Busahmein, Parlamentssprecher und de facto Interims-Staatsoberhaupt, rechtfertigte die Existenz der "Operationszelle von Revolutionären". Seidan dagegen versicherte nach seiner Freilassung, er werde nicht unter dem Druck seiner Gegner zurücktreten.

Korruption und Öl

Die "Operationszelle von Revolutionären" hatte vorgegeben, Seidan aufgrund eines Haftbefehls verschleppt zu haben, den die Regierung jedoch dementierte. Eine der Anschuldigungen, die die Gruppe gegen Seidan erhebt, bezieht sich auf eine Korruptionsaffäre: Die Regierung soll versucht haben, Rebellen zu bestechen. Es handelt sich um Föderalisten und abtrünnige Sicherheitstruppen, die seit August Ölfördereinrichtungen im Osten des Landes besetzt halten und die Region für unabhängig erklärt haben. Während sie noch mit der Staatsmacht verhandelten, behaupteten Anführer der Protestbewegung, die Regierung habe versucht, sie mit 18 Millionen Euro zu bestechen. Noch ist unklar, wie tief die Staatsführung in den Skandal verwickelt ist, der ihrer Glaubwürdigkeit zumindest einen schweren Schlag versetzt hat.

Den eigentlichen Hintergrund der Entführung bilden Beobachtern zufolge jedoch Machtkämpfe. Außerdem sollte Seidans Verschleppung wohl auch eine Warnung an ihn sein, denn er hat aus der Sicht vieler Libyer nicht energisch genug reagiert, als ein US-Spezialkommando vor einer knappen Woche in Tripolis das mutmaßliche Al-Kaida-Mitglied Nasih al-Rukaji alias Abu Anas al-Libi entführt hat.

Wachsende Politikverdrossenheit: ein Plakat in Tripolis ruft zum Sturz der Regierung Seidans und der Moslembrüder auf (September 2013) (Foto: DW/Stocker)
In Tripolis ruft ein Plakat zum Sturz der Regierung Seidans und der Moslembrüder aufBild: Valerie Stocker

Verfeindete Koalitionspartner

Insgesamt steht Seidans Kabinett auf wackligen Beinen. Die beiden größten Parteien im Parlament und Koalitionspartner, die eher liberale Nationale Allianz NFA und die aus der Moslembruderschaft hervorgegangene JCP, tun sich schwer damit, sich die Macht zu teilen und werden von Kräften außerhalb der Parteien verstärkt unter Druck gesetzt.

Sie zerfleischen sich über Grundsatzdebatten: Zum Beispiel über das sogenannte Isolationsgesetz, das frühere Regimemitglieder ausgrenzt - und von denen gibt es viele innerhalb der NFA. Zum Beispiel über die Rolle des Islams in der zukünftigen Verfassung. Die Fraktionen sind so sehr gegeneinander aufgebracht, dass die Regierung seit Jahresbeginn nahezu gelähmt ist. Mehrmals besetzten Milizen Parlamentsgebäude und Ministerien bis das Isolationsgesetz zum Vorteil der Islamisten erlassen wurde. Dabei haben sich die Mehrheitsparteien abwechselnd aus taktischen Gründen zurückgezogen, damit dem Kongress die notwendige Abstimmungsquote fehlte. Probleme bereitet auch die Bildung der verfassungsgebenden Versammlung, bei der vor allem um das regionale Gleichgewicht gestritten wird. Der Prozess hängt in der Schwebe.

Oberst Mohamed Khabasha in Zintan, beugt sich über eine Karte die einen Teil seines Einflussbereiches darstellt (September 2013) (Foto: DW/Stocker)
Oberst Mohamed Khabasha, Chef des Militärrats in ZintanBild: Valerie Stocker

Regionale Fronten

Politische und militärische Kräfte sind eng miteinander verbunden - das hat die Regierungskrise zusätzlich verschärft. Die Nationale Allianz baut vorwiegend auf die Unterstützung des kleinen Berberortes Zintan und seines Militärrates. Zintan hat sich während der Revolution als Rebellenhochburg hervorgetan und seine Führer kontrollieren seither weite Teile Westlibyens. Aus ihrer Sicht sind die Moslembrüder und die Salafisten die größte Gefahr. Die islamistisch geprägte Opposition ist schwieriger einzuordnen, da es sich um ein Potpourri mehr oder minder radikaler Kräfte handelt, in denen Oppositionelle der Gaddafi-Zeit und Rebellen aus Misrata sowie den östlichen Vierteln der Hauptstadt überwiegen. "Es gibt zwar keine definierte Frontlinie, aber dennoch hat sich in Tripolis eine Ost-West-Konfrontation herausgebildet", erklärte Oberst Mohamed Khabasha, Chef des Militärrats in Zintan. Zu seinem Einflussgebiet gehört seit der Revolution unter anderem der Flughafen von Tripolis.

Östlich von Tripolis haben Kräfte in der Hafenstadt Misrata, ebenfalls von revolutionärem Eifer angetrieben, den Druck auf die Regierung verstärkt. "Wir sind die wichtigste Militärmacht in Westlibyen und somit die einzigen, die den Kongress schützen können", betonte dort Lokalpolitiker Mohamed Fortia bei einem Gespräch im Sommer. "Wir und unsere Bündnispartner werden die kriminellen Milizen auflösen und die Seidan-Regierung zum Rücktritt drängen." Das haben sie auch teilweise umgesetzt, als Parlamentssprecher Busahmein im August die "Operationszelle von Revolutionären" aktivierte und Kräfte aus Misrata mit dem Schutz der Hauptstadt beauftragte. Vorangegangen war unter anderem Anfang August der Rücktritt von Vize-Ministerpräsident Awad al-Baraasi. Nach einer Welle von Attentaten sagte er, Seidans Regierung könne Recht und Ordnung nicht durchsetzen.

Katastrophale Sicherheitslage

Die Sicherheitslage hat sich in vielen Gegenden permanent verschlechtert: Natürlich im Westen, wo sich die politischen Fraktionen Stellvertreterkriege leisten. Aber auch in Bengasi im Nordosten, wo Milizen ungehindert erpressen und morden. Die verfeindeten Interessengruppen verhindern weitgehend, dass eine Nationale Armee gebildet wird. Die Regierung gilt längst als gescheitert und fast überall hat sich die Meinung durchgesetzt, dass sich die Krise mit den existierenden politischen Parteien nicht lösen lässt.

Das einzig Positive scheint die plötzliche Solidarität der Bevölkerung mit dem Ministerpräsidenten zu sein: Aktivisten beschrieben die Entführungsaktion als Putschversuch und eine Online-Gruppe zur Unterstützung Seidans gewann innerhalb von Stunden über tausend Anhänger.