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Literatur

Toni Morrison ist tot

6. August 2019

Wie ihr Verleger Alfred A. Knopf mitteilte, starb die Schriftstellerin am Montag spätabends in einem New Yorker Krankenhaus. Sie wurde 88 Jahre alt.

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Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist tot
Bild: Getty Images/AFP/F. Fife

1993 war sie die erste afroamerikanische Frau, die den Literaturnobelpreis erhielt. Die Schwedische Akademie lobte damals ihre Sprache und ihre "visionäre Kraft". Dabei waren Toni Morrisons Themen nie leichte Kost: Sie schrieb über den Rassismus in den USA.

Eine akademische Karriere

Toni Morrison wurde am 18. Februar 1931 unter dem Namen Chloe Wofford in der Kleinstadt Lorain im US-Bundesstaat Ohio geboren. Sie war das zweite von vier Kindern in einer afroamerikanischen Arbeiterfamilie und wuchs in einem ethnisch gemischten Viertel auf, zusammen mit Afroamerikanern, Polen und Italienern. Schon als Kind las sie Klassiker von Tolstoi und Jane Austen - und lauschte den traditionellen afroamerikanischen Geschichten, die der Vater George Wofford erzählte, wenn er aus dem Stahlwerk zurückkam. Die Bildung seiner literarisch und kulturell interessierten Tochter lag ihm so sehr am Herzen, dass er später einen Zweitjob annahm, um sie finanziell beim Studium zu unterstützen.

Nach dem Studium der Geisteswissenschaften an der Howard Universität in Washington und der Cornell Universität in Ithaca, New York, startete Toni Morrison eine erfolgreiche akademische Karriere. Sie unterrichtete unter anderem an der Howard Universität, in Yale und Princeton. Als Lektorin und Verlegerin bei Random House förderte sie afroamerikanische Schriftsteller wie Angela Davis und Toni Cade Bambara.

Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist tot
Toni Morrison 2012Bild: Getty Images/AFP/P. Kovarik

Wider den Selbsthass: Ihr erster Roman "The Bluest Eyes"

Es war das Buch, das sie gerne lesen wollte - und das es noch nicht gab. Also musste sie es einfach selber schreiben: So erinnerte sich Toni Morrison an die Entstehungsgeschichte ihres ersten Romans "The Bluest Eyes" (1970; deutsch: Sehr blaue Augen, 1979). Damals arbeitete sie als Lektorin beim Random House Verlag und kümmerte sich als geschiedene, alleinerziehende Mutter um zwei kleine Söhne.

Sie wollte über die "verletzlichsten Figuren schreiben, die sonst nie im Mittelpunkt stehen", und erzählte die Geschichte eines schwarzen Mädchens am Rande der Gesellschaft, das vom eigenen Vater sexuell missbraucht wird. Die Protagonistin Pecola Breedlove betet jeden Abend um "sehr blaue Augen" und glaubt fest daran, dass sich alles in ihrem Leben zum Positiven verändern würde, wenn sie eine hellhäutige, blonde und blauäugige Schönheit wie die Kinderschauspielerin Shirley Temple wäre.

In einem Interview mit "The Guardian" erinnerte sich Toni Morrison an eine schwarze Schulkameradin aus Ohio, die diesen Wunsch geäußert hatte - einen Traum, den die zukünftige Schriftstellerin schon damals als Ausdruck des "Selbsthasses" sah.

Kultureller Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung

In einem Gespräch mit der "New York Times" erklärte sie, dass sie sowohl ihre eigenen Bücher als auch jene schwarzer Autoren, die sie als Lektorin betreute, als einen Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung in den USA sah.

Durch ihre Darstellung des Lebens der Afroamerikaner habe sie dieser Gemeinschaft "Stück für Stück ihre Geschichte zurückgegeben", rühmte sie Sture Allen, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, als sie 1993 den Literaturnobelpreis bekam. Ihre Romane weckten in erster Linie "Empathie und Mitgefühl" mit anderen Menschen, betonte er in seiner Rede zur Nobelpreisverleihung.

Sie habe ihre afroamerikanischen Romanhelden nie idealisieren wollen, sagte die Autorin selbst über ihre Arbeit. Jede Form von "erbaulicher schwarzer Rhetorik" lehnte sie ab - stattdessen wollte sie Fragen stellen.

Toni Morrison erhält Literaturnobelpreis 1993
1993 erhielt Toni Morrison den Literaturnobelpreis Bild: picture-alliance/AP Photo

Debatten über den Nobelpreis für Morrison

Es gab einige skeptische Stimmen, die bezweifelten, dass sie die Auszeichnung wirklich verdiente. Sie habe den Preis nicht wegen ihrer Erzählkunst bekommen, sondern weil sie eine schwarze Literatin sei, aus "political correctness" sozusagen. Und der deutsche Kritiker und Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki urteilte damals harsch: "Eine mittelmäßige Schreiberin. Man wollte eine Frau auszeichnen."

Das Magazin "Der Spiegel" wies solche Vorwürfe in einem Kommentar vehement zurück und konterte: "Sie ist, was oft vernachlässigt wird, eine souveräne, sprachgewaltige Erzählerin, die sich ihre ganz eigene Form geschaffen hat: eine Verbindung aus literarischen Techniken der westlichen Moderne und rhetorischen Traditionen der Schwarzen." 2012 schrieb das "New York Magazine": "Zwei Jahrzehnte nach ihrem Nobelpreis-Sieg ist Toni Morrisons Platz in der Ruhmeshalle gefestigter denn je." Und war sich sicher, dass sie mehr für die Nachwelt schrieb als für irgendjemanden sonst. Denn die Werke Toni Morrisons, darüber sind sich Literaturwissenschaftler einig, gehören längst zum Weltkanon der US-amerikanischen Literatur.

Gegen bequeme Vorstellungen von Gut und Böse

Ihr berühmtester Roman "Beloved" (1987; deutsch: "Menschenkind", 1989) ist von der realen Geschichte der ehemaligen Sklavin Margaret Garner aus dem Amerika des 19. Jahrhunderts inspiriert: Als sie nach ihrer Flucht entdeckt wurde, tötete sie ihre kleine Tochter, um ihr ein Leben in Gefangenschaft zu ersparen.

Die Heldin sollte "die kompromisslose Akzeptanz von Scham und Grauen verkörpern, die Konsequenzen ihrer Entscheidung zum Kindsmord tragen - und ihre eigene Freiheit einfordern", schrieb Toni Morrison im Vorwort einer Neuauflage des Romans "Beloved". Die Protagonistin Sethe wird vom Gespenst des getöteten Babys heimgesucht. Doch für sie war der Kindsmord ein Akt der Liebe, um das Baby vor etwas zu bewahren, das in den Augen der Mutter "schlimmer als der Tod" war. Denn die weißen Sklavenhalter konnten sie nicht nur "töten oder verstümmeln, sondern auch beschmutzen. (...) Dich so schlimm beschmutzen, dass du vergisst, wer du warst und nie mehr darauf kommen könntest."

Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist tot
Barack Obama zeichnete Morrison 2012 mit der Freiheitsmedaille aus - der höchsten zivilen Ehrung der USABild: Getty Images/AFP/;- Ngan

Über die Schrecken von Sklaverei und Rassismus in den Vereinigten Staaten schrieb Toni Morrison mit einer Mischung aus Wut und Mitgefühl. Ihre Romane fordern den Leser heraus, sich nicht mit bequemen Vorstellungen von Gut und Böse zu begnügen.

Psychologie des Rassismus

Wie komplex - und wie aktuell - das Thema war, zeigte auch ihr letztes Buch "God help the Child" (2015). In dem Roman, den Morrison zusätzlich als Hörbuch selbst im Studio aufnahm, leidet eine erfolgreiche afroamerikanische Karrierefrau im heutigen Amerika unter der Gefühlskälte ihrer Mutter. Dahinter steckt die Abneigung der hellhäutigeren afroamerikanischen Mutter gegen die Hautfarbe ihres Kindes. "Sie war so schwarz, dass sie mich erschreckte. Ich wünschte, sie wäre nicht mit dieser schrecklichen Farbe auf die Welt gekommen", denkt sie sofort nach der Geburt der Tochter. Das einsame Kind versucht alles, um die Liebe und Aufmerksamkeit der Mutter zu gewinnen: Sie lügt sogar vor Gericht und bringt damit eine unschuldige Frau ins Gefängnis.

Toni Morrison gehörte zu den wenigen Autorinnen und Autoren, deren Bücher ein Millionenpublikum erreichen - und gleichzeitig von Kritikern und Literaturwissenschaftlern gefeiert werden. Seit Jahren gehören ihre Werke auch zum Lehrplan an Schulen und Universitäten in den USA und vielen anderen Ländern. Die Nobelstiftung würdigte Morrison am Dienstag auf Twitter mit den Worten: "Sie war eine der stärksten und einflussreichsten literarischen Kräfte unserer Zeit".

Ihr Bücher zeichnete die Kraft des Mitgefühls aus. Eine wertvolle Hinterlassenschaft für diese Welt.

Porträt einer lächelnden Frau mit Brille und langen braunen Haaren
Dana Alexandra Scherle Redakteur und Autor der DW Programs for Europe