Zum 100. Geburtstag Primo Levis
30. Juli 2019Sein Albtraum wurde wahr. Als KZ-Häftling fürchtete er, dass niemand ihm glauben würde: Wie in Auschwitz Menschen erniedrigt, gedemütigt, zerstört und vernichtet wurden. Primo Levi überlebte nur dank Zufall und Glück. Seine Erlebnisse schrieb er bereits direkt nach Rückkehr in sein Heimatland Italien auf, 1947 eines der ersten literarischen Zeugnisse über die abgründige Unmenschlichkeit des Holocausts überhaupt. Doch niemand wollte davon lesen. Lange fand sich kein Verlag, "Ist das ein Mensch?" erschien zunächst in kleiner Auflage von 1400 Stück.
Heute zählt Levis autobiografischer Bericht zur Weltliteratur. Als 1958 endlich der renommierte italienische Verlag Einaudi das Buch druckte, folgte drei Jahre später die deutsche Übersetzung. Es dauerte also rund 15 Jahre nach Kriegsende, bis die Literaturwelt erkannte, welchen besonderen Wert Primo Levis Zeilen hatten.
Kühler Forscherblick auf Judenvernichtung
Levi (1919-1987) war studierter Chemiker und wuchs in einem gebildeten Elternhaus mit großer Leidenschaft zur Literatur auf - Primo konnte bereits vor seiner Einschulung lesen. In der Verarbeitung seiner Erlebnisse verband er den Blick des Naturwissenschaftlers mit der Literatur. Er wurde zum "Schriftsteller wider Willen", um die "Bürde grausiger Erinnerungen" abzutragen.
Und so beschrieb und beobachtete Primo Levi in "Ist das ein Mensch?", was er während seines elfmonatigen KZ-Aufenthalts durchlebt hatte: Kälte, Hunger, Entzug von Schlaf und Hygiene, Sklavenarbeit, schwerste körperliche Leiden. Der Erzählton ist kühl, kommentarlos, verliert nie die Beherrschung. Levi dichtete nichts hinzu, verzichtete auf Gefühlsäußerungen und begab sich stattdessen in die Rolle des ihm vertrauten Forschers. Er nutzte seine Schilderung nicht, um seinem eigenen Entsetzen Luft zu machen - das überließ er dem Leser. Seine gefühlsarme Sachlichkeit unterschied ihn von anderen autobiografischen Holocaust-Autoren und machte ihn zu einem gefragten Schriftsteller.
"Wehrlos" und "naiv" - Widerstandskämpfer gegen Faschisten
Primo Levi wurde in Turin als Sohn einer liberalen jüdischen Familie geboren. Kurz nachdem er sein Chemiestudium begonnen hatte, erließ die damalige faschistische Regierung ein Rassengesetz, das jüdischen Bürger verbot, an staatlichen Hochschulen zu studieren.
Levi gelang es trotzdem, 1941 sein Studium mit Promotion und Auszeichnung - aber auch mit dem Vermerk "von jüdischer Rasse" - abzuschließen. 1943 schloss er sich dem Widerstand, der Resistenza, an und kämpfte im Nordwesten Italiens. Schon nach einigen Wochen wurde er von der faschistischen Miliz festgenommen. "Wir froren und hungerten, wir waren die wehrlosesten Partisanen im ganzen Piemont und wahrscheinlich auch die naivsten", schrieb Levi später in einem seiner autobiografischen Bücher. Aus Furcht, als Widerstandskämpfer direkt erschossen zu werden, bekannte er sich zu seiner jüdischen Abstammung, worauf er im Februar 1944 nach Auschwitz deportiert wurde.
Der Zug transportierte 650 Frauen, Männer und Kinder. Nur rund 120 davon wurden als Häftlinge aufgenommen, alle weiteren sofort in Gaskammern ermordet. Bei Kriegsende wird Primo Levi einer von nur fünf Überlebenden dieses Zuges sein. Der Chemiker wurde als Zwangsarbeiter für IG Farben eingesetzt - die Nationalsozialisten fanden also Verwendung für den 25-jährigen Italiener. Durch diesen Zufall überlebte er in den Fabrikhallen den harten Winter. Da er dennoch an Scharlach erkrankte, wurde er in den sogenannten Krankenbau verlegt, wo er sich selbst überlassen war.
Levi überlebte - und überlebte gerade auch dank der Erkrankung, da er kurz vor der Befreiung von Auschwitz zurückgelassen und nicht mit auf die Todesmärsche genommen wurde. "Der typische Gefangene starb im Lauf weniger Wochen oder Monate an Erschöpfung oder an durch Hunger und Vitaminmangel verursachten Krankheiten", stellte er Ende der 1970er Jahre in einem Brief fest. "Jeder von uns Überlebenden ist ein vom Glück Begünstigter."
Über-leben als Überlebender
Es dauerte fast neun Monate, bis Primo Levi nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee wieder zu Hause in Turin ankam. Eine Irrfahrt der Befreier hatte ihn zunächst bis nach Minsk geschickt. Diese Zeit und seine Sicht auf ein zerstörtes Europa beschrieb er 1963 in "Die Atempause". Der autobiografische Roman, der 1997 mit John Torturro in der Hauptrolle verfilmt wurde, liest sich teils heiter, endet jedoch mit Albträumen über das Konzentrationslager.
Zurück in Turin arbeitete Primo Levi als Chemiker, machte sich in keramischer Isolationstechnik einen Namen, stieg zum Geschäftsführer seines Unternehmens auf und war nach seiner Pensionierung weiterhin als Berater tätig. Währenddessen ging er seinem Nebenberuf, der Schriftstellerei, nach. Er probierte sich erfolgreich in verschiedenen Genres wie Erzählungen, Romanen und Gedichten aus, teilweise auch unter Pseudonym.
Am Ende seines Lebens widmete er sich wieder den traumatischen Erinnerungen: "Meine wahre Universität war Auschwitz." 1975 verfasste er mit "Das periodische System" einen vielbeachteten Band von Kurzerzählungen. Die 21 autobiografischen Erlebnisse widmete er jeweils einem chemischen Element, dessen Eigenschaften Teil der Erzählung sind. Das Londoner Imperial College wählte den Band im Rahmen einer Publikumsabstimmung zum "besten populären Wissenschaftsbuch aller Zeiten". Später folgte ein Roman über italienische Partisanen im Zweiten Weltkrieg, der auf seinen damaligen Erlebnissen basiert.
"Scham" der Geretteten
Ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien 1986 "Die Untergegangenen und die Geretteten". Hier kehrte Primo Levi nach 40 Jahren noch einmal zu seiner prägenden Auschwitz-Erfahrung zurück und fasste die Themen seines Lebens als Überlebender zusammen. In eindringlicher Weise reflektierte er über das Erinnern des "größten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit".
Wie auch in vorherigen Werken wird deutlich, wie sehr ihn die "Scham" belastete, durch Zufall und Glück überlebt zu haben: "Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewusst geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden."
Das Buch endet mit einer Reihe von Briefen, die er in den 1960er Jahren von deutschen Lesern seines ersten Auschwitz-Berichtes erhalten hatte. Sie dokumentieren das verdrängte und gespaltene Schuldbewusstsein von Zeitzeugen.
Ende eines Albtraums
Und so hatte sich Primo Levis Albtraum am Ende doch nicht bewahrheitet: Bis zu seinem Tod im Alter von 67 Jahren galt der Italiener als viel geachteter und unermüdlicher Mahner, der engagiert gegen Faschismus und Nationalsozialismus kämpfte. Seine Berichte trugen zu den Ermittlungen gegen den Kommandanten des KZ Auschwitz, Rudolf Höß, Lagerarzt Josef Mengele und gegen Adolf Eichmann, den Organisator der "Endlösung", bei. Regelmäßig sprach er mit Schülern und verfasste Gedenkartikel für Tageszeitungen.
Kurz vor seinem Tod bot ihm gar der renommierte Einaudi-Verlag, der anfangs das Buch "Ist das ein Mensch?" abgelehnt hatte, die Verlagsleitung an. Der deutsche Chemiekonzern IG Farben zahlte ihm eine Entschädigung für die im KZ geleistete Zwangsarbeit - in Höhe von rund 63 Euro.