Libyens steiniger Weg zu einer Verfassung
20. Februar 2014Drei Jahre nach dem Beginn der Revolution gegen Diktator Muammar al-Gaddafi herrscht in Libyen immer noch Chaos. Separatisten blockieren die Ölausfuhren, der Vize-Industrieminister wurde erschossen, Regierung und Parlament sind vom Dauerstreit gelähmt. Zusätzlich machen Milizen viele Orte unsicher. Anders als die Nachbarstaaten Ägypten und Tunesien, wo 2011 ebenfalls die Langzeit-Herrscher stürzten, hat Libyen noch nicht einmal eine neue Verfassung. Um das zu ändern, haben die Bürger an diesem Donnerstag (20.02.2014) eine verfassungsgebende Versammlung gewählt. Ob das zur langfristigen Beruhigung der Lage beiträgt, ist jedoch fraglich. Mehrere Abstimmungsbüros wurden am Wahltag von Extremisten angegriffen. Sprengsätze verursachten Sachschäden, meldeten libysche Behörden.
Kaum Aufbruchstimmung, geringe Wahlbeteiligung
Obwohl Libyen zum ersten Mal nach über 40 Jahren Gaddafi-Herrschaft ein neues Grundgesetz erhalten soll, ist von politischer Aufbruchstimmung wenig zu sehen. Nicht einmal ein Drittel der rund 3,3 Millionen Wahlberechtigten ließ sich laut Claudia Gazzini, Expertin der International Crisis Group in Libyen, für den Urnengang registrieren. "Ob dieses Gremium repräsentativ sein wird oder nicht, ist noch eine offene Frage", sagt sie im DW-Gespräch. Tatsächlich abgegeben wurden am Donnerstag sogar nur knapp 500.000 Stimmen - damit lag die Wahlbeteiligung insgesamt also nur bei etwa 15 Prozent.
Um die 60 Sitze in dem Gremium bewerben sich knapp 650 Kandidaten. Wer schließlich an der neuen Verfassung mitarbeiten wird, hängt nicht allein von der Stimmenzahl ab. Frauen, die verschiedenen Regionen Libyens und ethnische Minderheiten sollen über Quoten angemessen vertreten sein. Berber-Vertreter hatten einen Wahlboykott angekündigt, weil sie sich mit zwei vorgesehenen Sitzen nicht ausreichend repräsentiert fühlen.
Ein Wahlkampf fand nach Beobachtung von Gazzini kaum statt. Die Kandidaten treten offiziell als Unabhängige an. Mitglied einer bestimmten Partei zu sein, würde ihre Erfolgschancen eher mindern. Dafür ist der italienischen Forscherin zufolge der Dauerstreit im Übergangsparlament verantwortlich. Viele Libyer hätten genug von den politischen Grabenkämpfen zwischen der Allianz der Nationalen Kräfte, den Muslimbrüdern und anderen Gruppen. Doch ohne eine deutliche Verbindung zu einer Partei oder Bewegung ist es für die Libyer schwer, die weitgehend unbekannten Bewerber einzuordnen. "Viele Wähler wissen noch nicht einmal, wofür diese Kandidaten stehen", erklärt Gazzini.
Nicht im Zeitplan
Das neue Gremium soll innerhalb von vier Monaten einen Entwurf für ein neues Grundgesetz vorlegen. Das klingt ehrgeizig, denn bislang hinkt der Aufbau staatlicher Strukturen und politischer Organe allen Zeitplänen hinterher. Eigentlich sollte der 2012 gewählte Allgemeine Nationalkongress (GNC), wie das Übergangsparlament heißt, binnen eines Monats einen Verfassungsausschuss bestimmen. Bis Ende 2013 sollte ein Entwurf vorliegen. Nach diesem ursprünglichen Zeitplan, auf den sich die Revolutionäre nach dem Sturz Gaddafis im Sommer 2011 geeinigt hatten, endete das Mandat des Übergangsparlaments bereits am 7. Februar 2014. Doch die Abgeordneten verlängerten ihre eigene Amtszeit. Das wollten viele Libyer nicht hinnehmen. Sie gingen zu Tausenden auf die Straße und demonstrierten gegen die Parlamentarier, die in den vergangenen anderthalb Jahren kaum ein Vorhaben umsetzen konnten. Schließlich gaben die Abgeordneten nach und kündigten Neuwahlen an.
Wenn die 60 Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung fristgerecht oder verspätet einen Entwurf vorlegen, sind die Hürden bis zur Annahme immer noch hoch. So muss das nächste Übergangsparlament den Text absegnen. Dann müssen die Libyer in einem Referendum mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Streitpunkte gibt es genug. Die Diskussionen drehen sich um die Fragen, wieviel Macht die Regionen erhalten, welche Rechte die Minderheiten bekommen oder welchen Einfluss die Scharia haben soll.
"Sicherlich wird dieses neue Gremium viele Probleme haben, die auch das Übergangsparlament hat, die mit rivalisierenden Visionen zu tun haben, wie das Land aussehen soll", sagt Gazzini voraus. Zusätzlich zum Streit über Inhalte werde auch der Mangel an Erfahrung, wie politische Debatten zu führen sind, die Arbeit hemmen.
Alltagssorgen überschatten Verfassungsfragen
Nach Einschätzung von Anas el-Gomati, Gründer der libyschen Denkfabrik Sadeq-Institut, haben die Menschen ohnehin andere Sorgen als Verfassungsdetails. "Schlechte Stromversorgung, schlechte Straßen und Schulen, schlechte Gesundheitsversorgung, das betrifft jeden, Kinder, Teenager, Erwachsene und Alte", beschreibt el-Gomati die allgemeinen Nöte. Dagegen spiele die Frage nach der Rolle der Scharia in der Gesetzgebung nur eine untergeordnete Rolle. Dem Analysten zufolge bringen eine neue Verfassung und weitere Schritte im politischen Übergangsprozess dem Krisenstaat noch keine Stabilität. Wichtig sei es, die Lebensqualität der Einwohner zu verbessern. Erst dann werde sich die Lage ändern.
In den Debatten über die zukünftige Entwicklung beobachtet Gazzini einen Trend. Demnach wächst der Druck, die Verfassung aus der Zeit vor Gaddafi als Basis für eine neue Rechtsordnung zu nehmen. Dahinter stehe die Ansicht vieler Libyer: "Wir werden uns nie darauf einigen, wie Libyen sein soll. Warum gehen wir nicht zurück zur Verfassung von vor 1969?"