Lampedusa: "Eine Krise für die Insel, nicht für Italien"
16. September 2023Migranten und Geflüchtete sitzen dicht gedrängt auf dem Boden, Mützen und Handtücher auf dem Kopf gegen die sengende Septembersonne. Sie säumen die schmale Straße nach Contrada Imbriacola, das zentrale Aufnahmezentrum für Migranten auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa.
Hier sitzen auch der 16-jährige Abubakar Sheriff und sein zehnjähriger Bruder Farde, die aus Sierra Leone bis nach Tunesien und dann per Boot nach Lampedusa gekommen sind.
"Wir sind seit vier Tagen auf der Insel, wir haben draußen geschlafen und wenig gegessen und getrunken. Wir haben uns von ein paar Keksen ernährt", erzählt Abubakar der DW.
"Am Mittwoch sind wir hier angekommen. Auf dem Boot waren 48 Menschen, und es war eine Reise voller Angst. Ich habe gesehen, wie andere Boote gekentert sind. Aber wir hatten Glück."
Zusammen mit tausenden Geflüchteten warten die Brüder vor dem Aufnahmezentrum, um mit Polizeitransportern zum Hafen gebracht zu werden. Von dort werden sie nach Sizilien und in andere Landesteile gebracht, wo ihre Asylanträge bearbeitet werden.
Mehr Flüchtlinge als Einwohner
Mehr als 7000 Geflüchtete sind in dieser Woche in wackeligen Booten aus Tunesien angekommen. Auf der Insel selbst leben rund 6000 Menschen. Das Aufnahmezentrum ist für rund 400 Personen ausgelegt. Die Behörden in Lampedusa sagen, sie hätten im Umgang mit den Geflüchteten mittlerweile "einen Kipppunkt" erreicht.
Lampedusas Bürgermeister Filippo Mannino rief den Notstand aus. Gegenüber lokalen Medien erklärte er, Migranten seien hier immer willkommen geheißen worden - aber jetzt sei die Insel "in einer Krise".
Am Samstag verkündete Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Regierung werde außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen. Eine europäische Mission solle Boote mit Migranten stoppen. Wenn nötig, müsse die Marine eingesetzt werden.
"Die Regierung hatte Zeit genug"
Flavio Di Giacomo, Sprecher der UN-Organisation für Migration (IOM), erklärte gegenüber der DW, die Zahl der Neuankömmlinge überwältige zwar die Insel, sei aber "keine Flüchtlingskrise für Italien".
Es handele sich vor allem um "ein Organisationsproblem für Lampedusa". 2015 und 2016, als sehr viele Migranten nach Europa gekommen seien, wären nur acht Prozent von ihnen in Lampedusa gelandet. Die anderen seien auf See gerettet und in sizilianische Häfen gebracht worden.
Dieses Jahr seien mehr als 70 Prozent der Geflüchteten über Tunesien in Lampedusa eingetroffen. Die italienische Regierung, so Di Giacomo, habe es in den vergangenen Jahren versäumt, die Insel darauf vorzubereiten.
"Die Regierung hatte Zeit genug, die Kapazitäten des Aufnahmezentrums auszubauen, seit es 2008 errichtet worden ist. Migration ist nichts Neues für das Land."
Tunesien fängt Boote nicht mehr ab
Lampedusa, die größte der Pelagischen Inseln im Mittelmeer, liegt auf halbem Weg zwischen Sizilien und Tunesien. Die Insel ist seit Jahren der erste europäische Anlaufpunkt für Menschen, die vor Krisen, Kriegen und Armut in Nordafrika und dem Nahen Osten fliehen.
Doch die vielen Neuankömmlinge in dieser Woche haben die Behörden kalt erwischt. "So etwas wie am Mittwoch haben wir noch nicht erlebt", sagt ein einheimischer Polizist nahe dem Asylzentrum gegenüber der DW.
Er zeigt ein Smartphone-Video, das etliche überfüllte Boote beim Einlaufen in den Hafen von Lampedusa zeigt, und meint: "Das gab es hier zuletzt 2011, nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Libyen". Damals rief die Regierung in Rom einen "Nordafrika-Notstand" aus.
Die steigenden aktuellen Ankunftszahlen gehen wahrscheinlich auf einen anderen Faktor zurück. Dies vermutet Roberto Forin, Regionalkoordinator des Mixed Migration Centre.
Was bringt Abkommen mit der EU?
"Unsere Forschung zeigt, dass die tunesische Küstenwache offenbar seltener Boote abfängt, die Richtung Italien aufbrechen", erklärt er gegenüber der DW. "Und zwar seit Mitte Juli, als Tunesien und die EU die Absichtserklärung über eine strategische Partnerschaft unterzeichnet haben."
Die EU-Kommission habe allerdings die 100 Millionen Euro noch nicht gezahlt, die für Rettungsaktionen und Rückführungen von Geflüchteten vereinbart worden waren. Von Journalisten danach gefragt, hieß es aus der Kommission, die Zahlung sei "in Arbeit".
Der EU-Tunesien-Deal soll irreguläre Migration aus Nordafrika stoppen und war von Italiens Ministerpräsidentin Meloni mit ausgehandelt worden. Für Flavio Di Giacomo von der IOM ist das Abkommen zwischen der EU und nordafrikanischen Staaten keine Lösung.
"Wir haben gerade eine humanitäre Notlage, weil Migranten Tunesien verlassen, weil sie dort rassistischer Diskriminierung und tätlichen Angriffen ausgesetzt sind. Auch in Libyen werden ihre Rechte verletzt. Einige geben auch an, dass sie nach Italien kommen, weil sie medizinische Versorgung brauchen, die sie in Tunesien nicht bekommen."
Di Giacomo fordert, mehr Seenotrettung zu einzusetzen, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Lampedusa müsse dabei geholfen werden, Geflüchtete zu retten.
So ähnlich sehen es auch Neuankömmlinge aus Mali, die in der Nähe des Aufnahmezentrums sitzen. Sie haben pinkfarbene Bänder um ihre Handgelenke, auf denen ihr Ankunftstag steht.
Italien fühlt sich allein gelassen
"Wir haben uns in Tunesien nicht sicher gefühlt", berichten sie. "Darum haben wir ungefähr 750 Euro für einen Schlepper in Sfax in bezahlt. Er hat uns ein Schlauchboot gegeben und gesagt, damit sollten wir das Meer Richtung Europa überqueren. Wir haben es bis Italien geschafft, aber eigentlich wollen wir nach Frankreich und für das Land Fußball spielen."
Nach Angaben der EU-Kommission sind mittlerweile 450 Mitarbeitende von Europol, Frontex und dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen nach Lampedusa entsandt worden, um die italienischen Behörden zu unterstützen. Für Transport und Infrastruktur seien 40 Millionen Euro bereitgestellt worden.
In Italien beschweren sich jedoch viele, dass sie alleine mit den Migranten klarkommen müssten. Deutschland verhindere eine Verlegung von Geflüchteten aus Italien und Frankreich mache seine Grenzen dicht.
"Freiwillige Solidarität ist ein Risiko"
"Ich verstehe, dass das überwiegend innenpolitische Gründe hat, weil die Regierungen in Frankreich und Deutschland befürchten, von den Rechtsaußen-Parteien angegriffen zu werden und darum vorsorglich schon mal restriktive Maßnahmen ergreifen", sagt Roberto Forin vom Mixed Migration Centre.
"Gleichzeitig ist Lampedusa die Messlatte für das Versagen der EU, inwieweit sie einen dauerhaften und nachhaltigen Mechanismus aushandeln kann. Wenn Solidarität freiwilligen Verfahren zwischen den Staaten überlassen bleibt, dann bleibt das Risiko, dass die Solidarität untergeht, wenn viel auf dem Spiel steht."
Einheimische zeigen sich hilfsbereit
Während die Politik und Menschenrechtsgruppen über die richtige Lösung streiten, finden Einheimische auf Lampedusa wie Antonello di Malta und seine Mutter: Der Kern jeder Übereinkunft sollte sein, Menschen zu helfen.
In der Nacht, als mehr als 7000 Schutzsuchende auf der Insel ankamen, rief Antonellos Mutter ihren Sohn an sagte, einige wären zu ihrem Haus gekommen und hätten um Essen gebettelt.
"Ich musste weg", erzählt Antonello, "aber ich habe mich nicht wohlgefühlt damit, was ich von meiner Mutter hörte. Also kehrte ich nach Hause zurück, und wir begannen, Spaghetti für sie zu kochen. Sie waren zu zehnt."
"Als ich sie sah", erinnert sich Antonellos Mutter, "dachte ich daran, wie ich mich wohl fühlen würde, wenn es meine Söhne wären, die weinten und um Essen bäten. Also habe ich für sie gekocht. Wir Italiener waren auch Migranten. Wir sind vom Norden in den Süden gewandert. Also sollten wir keine Angst vor den Menschen haben, sondern müssen helfen."
Mohammad hat großes Vertrauen in die Einheimischen und deren Hilfsbereitschaft. "Ich habe schreckliche Zustände in Gambia hinter mir gelassen", sagt er. "Ich bin zum ersten Mal in Europa, und die Leute hier sind wirklich nett zu mir, sie geben mir Kräcker und manchmal sogar Spaghetti."
"Ich weiß nicht, wohin ich als nächstes gebracht werde, aber ich habe die Hoffnung nicht verloren. Es hält mich aufrecht, wenn ich mir ausmale, dass ich eines Tages für Italien und schließlich für mein Heimatland Gambia Fußball spielen werde. Der Sport gibt mir so viel Freude in dem ganzen Elend."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.