Kosovo: Barrikaden als Arbeitszeit
29. Dezember 2022Zur Arbeit sind seine Eltern in den vergangenen Wochen nicht gegangen, berichtet der 25-jährige Aleksandar aus dem 500-Seelen-Dorf Dorf Zupce (alb. Zubqe) im Norden der Republik Kosovo der DW. Stattdessen überwachten sie die Barrikaden, die dort aus Protest gegen die Politik der Regierung des jüngsten Staates Europas errichtet wurden.
Die Einsätze würden über einen Schichtplan geregelt - wie normale Arbeit: "Mein Vater bleibt meist vier oder sechs Stunden bei der Barrikade, meine Mutter sechs bis acht Stunden", erklärt Aleksandar. "So lief das auch im vergangenen Jahr, für uns ist das Normalität geworden."
Die absolute Mehrheit der Bevölkerung Kosovos bilden Albaner. Im Norden des Landes aber leben seit Ende des Kosovo-Krieges 1999 fast nur Serben. Ihren Lebensunterhalt verdienen die meisten von ihnen in der Verwaltung, in Schulen oder medizinischen Einrichtungen, die vom serbischen Staat bezahlt werden. Institutionen der Republik Kosovo, die eigentlich zuständig wären, sind im Norden des Landes nicht präsent, andere Arbeitsplätze als die oben genannten gibt es quasi nicht. Menschen wie Aleksandars Eltern sind also wirtschaftlich komplett von der serbischen Regierung in Belgrad abhängig - von einem anderen Staat.
Auch in der nahen, ebenfalls Kosovo-serbisch dominierten Gemeinde Leposavic (alb. Leposaviq) bewachen die Menschen die Barrikaden nicht ganz freiwillig. "Dort stehen Leute, die sich Notizen machen, wer erscheint - und wer nicht", erklärt Stefan, der in dem 3000-Einwohner-Örtchen lebt: "Es gibt Schichten. Frauen arbeiten tagsüber, Männer nachts. Wer nicht kommt, dem wird damit gedroht, dass er seinen Job verliert." Tatsächlich verstünden viele Kosovo-Serben den Sinn und Zweck der Barrikaden nicht, so Stefan weiter: "Was soll das? Warum richten wir dieses Durcheinander an? Worum geht es dabei eigentlich? Diese Fragen stellen sich 90 Prozent der Leute hier!"
Angst vor Aufpassern in Zivil
Seit Anfang November 2022 etwa 500 Kosovo-serbische Polizisten den Dienst in den Sicherheitskräften der Republik quittierten, gibt es kaum noch kosovarische Sicherheitskräfte im Norden des Landes. Die verbliebenen ausländischen Polizisten der EU-Rechtsstaatmission EULEX können nach eigenen Angaben diese Lücke nicht füllen. Angehörige der NATO-Schutztruppe KFOR beobachten die Situation. De facto aber kontrollieren zurzeit Männer in Zivil die Straßen, die die Regierung in der kosovarischen Hauptstadt Pristina als "kriminelle Gruppen" bezeichnet.
Auch viele Kosovo-Serben fürchten die Aufpasser in Zivil - denn es ist klar, dass sie eng mit der Regierung in Belgrad verbunden sind. "Sie überwachen uns. Wenn wir etwas sagen, was man nicht sagen sollte, dann hat das Konsequenzen. Wir wissen natürlich nicht wirklich, wer für die verantwortlich ist - aber wir leiden unter der Angst vor ihnen," sagt Aleksandar aus Zupce. "Autos können angezündet werden, Leute können geschlagen werden - und wir werden nie herausfinden, von wem."
Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Forderung Pristinas, serbische Autokennzeichen im Norden Kosovos durch kosovarische zu ersetzen, war es vermehrt zu derartigen Übergriffen gekommen. Kosovo-Serben, die der Aufforderung nachkamen und ihre Nummernschilder austauschten, fanden am Morgen darauf an der Stelle, wo sie ihr Auto geparkt hatten, einen verbrannten Schrotthaufen vor. Die Täter konnten bis heute nicht ermittelt werden.
Für Stefan aus Leposavic ist klar, wer hinter den Taten steckt. Deshalb will er auch keine weiteren Angaben zu sich auf den Webseiten der DW publiziert sehen, nicht mal sein Alter und schon gar nicht seinen Nachnamen: "Ich habe Angst vor den kriminellen Gruppen hier im Norden. Ich weiß nicht, wer sie sind - aber wir sehen sie jeden Tag. Das ist auch der Grund, warum ich hier weg will."