Konfliktreiche Grenzen
24. Juni 2014Ein britischer Oberst und ein französischer Generalkonsul stehen namentlich für den Ursprung der dramatischen Entwicklungen im heutigen Irak: Mark Sykes und François Georges-Picot entwickelten 1916 das nach ihnen benannte "Sykes-Picot-Abkommen". In der geheimen Übereinkunft regelten sie die Aufteilung der Gebiete des ehemaligen Osmanischen Reiches, ohne dass die Bevölkerung etwas davon erfuhr.
Das Pikante daran: Zu dem Zeitpunkt existierte das Osmanische Reich noch. Kalif, also geistlicher und politischer Führer in Personalunion, waren zunächst Sultan Mehmed V. (1909-1918) und dann Mehmed VI. (1918-1922). Politisch endete das Osmanische Kalifat im November 1922 nach der Gründung der Türkei durch Kemal Atatürk. Das spirituelle Kalifat der Osmanen dauerte noch bis März 1924, als es auf Initiative Atatürks durch das türkische Parlament per Gesetz abgeschafft wurde.
Grenzziehung mit politischem Kalkül
Die beiden damals wichtigsten Militärmächte, Großbritannien und Frankreich, hatten großes Interesse an der Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf. In London hatten die Verantwortlichen schon Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt, wie wichtig der Zugang zu Erdölförderstätten werden könnte. Außerdem lag die Region genau auf dem Weg zu ihrer Kronkolonie Indien. Die Regierung in Paris wiederum hatte historisch gewachsene Geschäftsbeziehungen zu den großen Hafenstädten an der Mittelmeerküste wie Beirut, Sidon und Tyrus, die sie sich mit Hilfe des Sykes-Picot-Abkommens sichern wollte.
Das Schicksal der Einheimischen war den Großmächten dabei egal. Der Brite Sykes legte die Grenze zwischen den beiden Zuständigkeitsgebieten frei Hand mit einem Federstrich fest: von Kirkuk im heutigen Irak rund tausend Kilometer bis nach Haifa. Nationalstaaten nach europäischem Vorbild entstanden - und noch dazu in unnatürlichen Grenzen. "Die Künstlichkeit der Staatsbildung hat in den vergangenen Jahrzehnten für zahlreiche Konflikte gesorgt", sagt Henner Fürtig, Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg. "Diese Fragen sind seit einem Jahrhundert ungelöst und brechen immer wieder konjunkturartig hervor wie jetzt mit dem IS-Vorstoß im Nordirak."
Verschobenes Geschichtsverständnis
In der Region gibt es heute fast ausschließlich Staaten, deren Bevölkerung sich aus einer Vielzahl von Volksgruppen und Religionen zusammensetzt. Genau hier knüpft die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) mit ihrer Forderung nach einem all-islamischen Gottesstaat in Form eines Großkalifats an. Schon der Name deute an, dass sie versuchen wollen, die ihrer Ansicht nach westlich-imperialistische Grenzziehung rückgängig zu machen, so Fürtig.
Die Blütezeit dieser Regierungsform liegt für sie in den letzten 400 Jahren osmanischer Herrschaft. Was die IS-Kämpfer dabei übersehen: Eigentlich war es für die Araber eine Zeit der Fremdherrschaft durch osmanische Kalifen. Trotzdem halten sie das Kalifat für die natürliche Staatsform des gläubigen Muslims, merkt Henner Fürtig an. "Ich rede nicht über die Realisierbarkeit, ich rede davon, was man in der Propaganda zum Teil sehr erfolgreich verbreitet."
Keine Angst vor dem Zerfall
Immer mehr Beobachter warnen angesichts des Vormarschs der IS-Kämpfer im Irak vor einem Zerfall der politischen Ordnung des Landes. Henner Fürtig beurteilt die Entwicklung mit Blick auf die ebenfalls durch ein Gemisch von Ethnien und Religionen geprägten Nachbarländer weniger dramatisch für den Irak selbst: "Die Auswirkungen eines Staatszerfalls wären verheerend für die Türkei oder den Iran. Das will man nicht."
Außerdem, so der Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien, habe der Irak als Staat Erfahrung mit großen Krisen: "Der Bürgerkrieg im Irak 2006 war mindestens so schlimm wie jetzt. Damals gab es in einem Jahr 34.000 zivile Tote - und auch da ist der Staat de facto zusammengeblieben."