Kein Ende des nahöstlichen Staatensystems
22. Juni 2014Ohne Zweifel hat der überraschende Vormarsch der radikal-sunnitischen ISIS-Miliz im Irak die Karten im Mittleren Osten neu gemischt. Denn den Steinzeit-Dschihadisten gelang es in nur wenigen Tagen und ohne nennenswerten Widerstand durch die irakische Armee, die Kontrolle über große Gebiete im Westen des Iraks zu gewinnen. Dazu gehört die Millionenstadt Mossul, die zweitgrößte Stadt des Zweistromlandes.
Inzwischen dürften die ISIS-Kämpfer ihre Machtbasis im sunnitisch geprägten Westen des Iraks stabilisiert haben. Und sie kontrollieren bereits weite Teile im Osten Syriens entlang dem Euphrat. Zudem ist es ihnen offenbar gelungen, einen strategisch wichtigen Grenzübergang zu Syrien zu erobern. Somit ist die Grenze zwischen beiden Staaten, in denen die transnational agierenden Gotteskrieger ein Dschihadisten-Kalifat errichten wollen, faktisch nicht existent.
Bedeutet der fortschreitende Staatszerfall im Irak (aber auch in Syrien) das Ende der "Sykes-Picot"-Ordnung, wie zahlreiche Beobachter und Nahostkenner behaupten? Und wenn ja, was käme nach dieser "post-osmanischen" Ordnung?
Zur Erinnerung: Das heutige Staatensystem im Nahen und Mittleren Osten geht auf die im Abkommen von Mark Sykes und François Georges-Picot im Jahr 1916 festgelegten Grenzen zurück, die die politische Geographie der Region bis heute bestimmen. Als Folge dieser Vereinbarung, aber auch weiterer Verträge nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die heutigen Staaten zwischen Mittelmeer und Tigris.
Fragile Staatlichkeit als Grundproblem
Dass der Vormarsch der ISIS-Miliz im Irak eine große, terroristische Bedrohung für die Region ist, dürfte auf der Hand liegen. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar, dass diese Entwicklung nur ein Symptom für tiefer liegende Probleme in der Region darstellt.
Dabei bleibt die fragile Staatlichkeit das Hauptproblem. Wie schwach postkoloniale arabische Staaten tatsächlich sind, wurde vor drei Jahren durch den arabischen Frühling eindrucksvoll gezeigt, insbesondere in Libyen und Syrien.
Zuvor hat die inkompetente Bush-Administration durch eine beispiellose Fehlerkette den Irak mehrfach ins Chaos gestürzt. Vor allem erwies sich die amerikanische Unterstützung für Nuri al-Maliki als kapitaler Fehler. Der schiitische Ministerpräsident trägt durch seine sektiererische Politik persönlich die Hauptverantwortung für die Entfremdung der Sunniten und Kurden – und somit für den Zerfall des Post-Saddam-Iraks. Seine ausgrenzende Politik bereitete den Nährboden für den Aufstieg von ISIS und anderen Dschihadisten-Gruppen.
Pragmatische Allianzen sind gefragt
Überlagert werden diese Konflikte durch den Kampf um Vorherrschaft zwischen Iran und Saudi-Arabien. Dieser Hegemonialkonfikt schürt die alte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten und instrumentalisiert sie politisch. Dadurch werden alle Ansätze für pragmatische Konfliktlösungen blockiert.
Nach dem Debakel in Syrien und um die grenzübergreifenden Konfliktgefahren durch ISIS möglichst kontrolliert zu halten, sind pragmatische Allianzen das Gebot der Stunde.
Immerhin scheinen die Führungen in Teheran und Riad erkannt zu haben, dass die völlig enthemmten ISIS-Dschihadisten unkalkulierbare Risiken für beiden Länder mit sich bringen. Zumal sie zerfallende Staaten in der Region nicht wirklich gebrauchen können.
Weil der momentan schwache Westen nicht als externe Ordnungsmacht fungieren kann, ist er auf Hilfe regionaler Mächte angewiesen. Die Amerikaner sollten daher den direkten telefonischen Draht zwischen dem iranischen Präsidenten Rohani und dem saudischen König Abduallh nutzen, um eine Regierung der nationalen Einheit im Irak zu ermöglichen, selbstverständlich ohne den gescheiterten Nuri al-Maliki.
Im besten Falle wäre dies vielleicht der erste Schritt zur Schaffung einer neuen Kooperationsarchitektur im Mitteleren Osten. Mit den Dschihadisten ist jedenfalls kein Staat zu machen. Auch deshalb dürfte die Rede vom Ende des nahöstlichen Staatensystems von "Sykes-Picot" verfrüht sein.