Was Deutschland jetzt braucht
Seit zwei Wochen weiß die Welt endlich, wie die Deutschen ticken. Ein namhaftes Meinungsforschungsinstitut legte einen Sammelband aus mehr als 500 Umfragen vor. Manches Ergebnis war zum Schmunzeln: Die Deutschen mögen lieber Katzen als Hunde, trinken lieber Wein als Bier, feiern lieber zu Hause als auf Volksfesten und sind noch in ganz vielen anderen Dingen völlig anders, als es jedes Klischee bisher nahelegte.
Irritierend waren jedoch die Antworten auf den Satz: "Die jetzige politische Ordnung in Deutschland ist die beste, die wir je hatten". Nur in drei Bundesländern mochte mehr als die Hälfte diese Aussage vorbehaltlos bejahen. In drei ostdeutschen Ländern stimmte jeweils nur ein Drittel zu. Aber auch in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, wo zusammengenommen rund die Hälfte der Deutschen lebt, sehen das nur wenig mehr als 40 Prozent so.
Grundwerte bei Vielen kaum verinnerlicht
Es bleibt die Schwäche der Umfrage, dass nicht erhoben wurde, von wem die Mehrheit der offenbar Unzufriedenen denn lieber regiert würde - vom Kaiser, dem Führer oder lieber doch vom Staatsratsvorsitzenden und Genossen Generalsekretär? Deutlich wird aber, dass ein erheblicher Anteil der Deutschen eine enorme Distanz zu unserem Staat hat. Und demzufolge auch dessen Werte nicht oder nur sehr eingeschränkt teilt.
Das zeigt sich dieser Tage ganz deutlich im sächsischen Heidenau, wo Rechtsradikale Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper auf ankommende Flüchtlinge werfen und ganz normale Bürger dabeistehen, weil sie das ganz offenbar gut finden. Gewalt gegen wehrlose Menschen, darunter Kinder! Menschen, die zum Teil mitten aus der Hölle des Krieges geflohen sind!
Nein - Bürger, die so etwas gut finden, haben ganz offensichtlich ein Problem mit unserem Wertesystem. Den ersten Satz von Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes haben sie jedenfalls nicht verinnerlicht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" lautet der. Und nicht: Die Würde eines Deutschen ist unantastbar - auch wenn das die Steinewerfer und ihre Zuschauer vielleicht besser fänden. Außerdem steht im selben Artikel, dass sich die Deutschen zu den unverletzlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bekennen. Ein wunderschöner Gesetzestext. Einfach und klar formuliert. Die Lektüre lohnt immer wieder.
Das Problem beschränkt sich nicht allein auf das sächsische Heidenau - auch in anderen Regionen Deutschlands gingen in den vergangenen 48 Stunden Flüchtlingsunterkünfte in Flammen auf. Und doch ist es gut, dass nun am Mittwoch die Bundeskanzlerin gerade in diesen Ort fährt, der seit dem Wochenende zum Synonym für Hass und rechte Gewalt geworden ist. Wenn Angela Merkel klug ist, dann folgt sie nicht dem Vorbild ihres Vize-Kanzlers, der am Montag schon vor Ort war - und alle Demonstranten unterschiedslos als "Pack" beschimpft hat. Ja, das ist emotional nachvollziehbar. Aber nicht sinnvoll. Denn wer beschimpft, der isoliert und grenzt aus. Deutschland aber steht vor enormen Herausforderungen und muss seine Bürger hierfür gewinnen. Zumindest jene, die bisher teilnahmslos dabeistehen.
Die Kanzlerin muss die Menschen gewinnen
Deswegen muss Angela Merkel reden und Empathie zeigen. In erster Linie natürlich mit den verängstigten Flüchtlingen selbst. Dann mit den Helfern - den professionellen und erst recht mit den ehrenamtlichen. Aber auch mit den normalen Bürgern von Heidenau, von denen sich viele ganz einfach Sorgen machen.
Wenn der Besuch der Kanzlerin Erfolg hat, dann bewirkt sie bei Letzteren vielleicht das gleiche Umdenken, welches am Dienstag die millionenfach verkaufte Bild-Zeitung vollzogen hat: Die Begriffe "Flüchtlingswelle" und "-flut" werden plötzlich sorgsam vermieden. Stattdessen lautet die Schlagzeile: "Flüchtlingen helfen! - Was ich jetzt tun kann". Genau das ist der Geist, den Deutschland jetzt braucht.