Sonntagabend, 18:54 Uhr, Champs de Mars in Paris. Auf der gigantischen Leinwand am Fuße des Eiffelturms flimmert die Übertragung des WM-Finales, der große Moment ist gekommen. Der Schiedsrichter hat die Pfeife in den Mund genommen, der Schlusspfiff ertönt, und in Paris bricht ein Vulkan aus. Es ist eine Eruption der Freude. Frankreich ist Weltmeister, die Menschen schreien, hüpfen, weinen und liegen sich in den Armen. In dieser einen Sekunde manifestiert sich die ganze emotionale Kraft des Fußballs.
"Dies ist ein Moment des Enthusiasmus, des Optimismus, der Begeisterung des gesamten Volkes", jubelt Laura. Sie ist Pariserin, trägt heute natürlich ihr blaues Nationalmannschaftstrikot. Ihre Augen sind noch feucht von den Freudentränen, die über ihre Wangen gekullert sind, als sie am DW-Mikrofon ihren Gefühlen freien Lauf lässt. "Wahnsinn. Die Mannschaft hat es vorgelebt, sie war eine Einheit und zeigte echten Zusammenhalt. Sie ist ein Vorbild für das ganze Land."
Ein Frankreich, wie es sein könnte: einig, gleich, erfolgreich
Nur wenige Augenblicke sind seit dem Abpfiff vergangen, und da ist sie wieder, die Analogie zwischen Nationalelf und Nation. Die französische Mannschaft, ein gut harmonierendes, multi-ethnisches Ensemble als Sinnbild für eine ebenso bunte und erfolgreiche Nation? Wie schon 1998, als Frankreich erstmals mit einer ebenfalls aus weißen und schwarzen Spielern gemischten Elf Weltmeister wurde, wird dieser Vergleich gezogen. Wie vor 20 Jahren zeigt sich auch dieses Mal sehr schnell: Der Vergleich hinkt.
Denn schon in der Final-Nacht entlädt sich in Paris und weiteren Städten Frankreichs sozialer Frust. Randalierer, viele von ihnen aus den Banlieues und nicht wenige mit einem Migrationshintergrund, zerstören Geschäfte, zünden Autos an. Inmitten der Stunde des Jubels wird die Grande Nation an ihre großen gesellschaftlichen Probleme erinnert. Nämlich, dass junge Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder arabisch klingendem Namen abseits des Fußballplatzes weit weniger gute Aufstiegschancen haben. Die französische Weltmeister-Elf ist eher die Projektionsfläche eines Frankreichs, wie es sein könnte: einig, gleich, erfolgreich.
Sündenbock Mesut Özil
Und was passiert, wenn der Erfolg ausbleibt, zeigt sich am Beispiel Deutschland. Auf das krachende Aus der deutschen Nationalelf in der Vorrunde folgt eine wahnwitzige Debatte um Mesut Özil: der Türke ist's schuld. In den sozialen Medien, aber auch von Verantwortlichen des DFB wird der Mittelfeld-Regisseur zum Sündenbock erklärt, obwohl einige Teamkollegen deutlich schlechtere Leistungen boten. Natürlich hatte sich Özil mit seinem ominösen Erdogan-Treffen und dem bockigen Schweigen danach selbst keinen Gefallen getan. Aber die massenhaften diskriminierenden Beleidigungen gegen den in Gelsenkirchen geborenen Sohn türkischer Eltern sind eine Ohrfeige für das angeblich liberale Deutschland. Sie zeigen, dass Rassismus leider immer noch nicht verbannt ist - weder aus der Gesellschaft, noch aus dem Fußball.
Hakenkreuze im Fanblock, Bananen, die auf schwarze Fußballer niederregnen, Schmähgesänge von den Rängen, weiße Spieler, die schwarzen Konkurrenten den obligatorischen Handschlag verweigern - Rassismus findet nach wie vor statt im internationalen Fußball, allen PR-Kampagnen und Bemühungen zum Trotz. "Das Problem ist immer noch da. Wir müssen mehr dagegen tun", sagte Gerald Asamoah auf dem Global Media Forum 2018. Als Nationalspieler und Profi unter anderem bei Schalke 04 musste er sich Affenlaute und rassistische Gesänge anhören, heute kämpft er gegen Diskriminierung im Fußball. "Es gibt nichts Schlimmeres, als ausgegrenzt zu werden, den Schmerz, nicht dazuzugehören. Ich selbst habe drei Kinder, und deshalb tue ich alles dafür, dass sie nicht dasselbe durchmachen müssen wie ich".
Diskriminierung auch bei der WM
Das Problem dabei: Nur wenige kämpfen mit solcher Überzeugung für die Selbstverständlichkeit der Gleichberechtigung im Fußball. Und so erlebte auch die WM in Russland wieder üble Fälle von Diskriminierung: Der dunkelhäutige Brasilianer Fernandinho wurde für sein Eigentor im Viertelfinalspiel gegen Belgien mit dem Tod bedroht und rassistisch beleidigt. Und der Schwede Jimmy Durmaz wurde in den sozialen Medien nach einem Foulspiel an Deutschlands Timo Werner (das zum Freistoß führte, den Toni Kroos zum Sieg verwandelte) als "Selbstmordattentäter" beleidigt und ebenfalls mit dem Tod bedroht.
Es ergibt sich ein Bild: Wenn eine ethnisch bunt gemischte Mannschaft Erfolg hat und Titel holt, sind auch schwarze Spieler wie Kylian Mbappé oder Paul Pogba gefeierte Stars, deren Trikots zu den meistverkauften zählen. Wenn ein Team aber ausscheidet und versagt, greifen bei manchen "Fans" alte, rassistische Reflexe: Spieler, die Einwandererfamilien entstammen, stehen viel schneller in der Kritik und werden sogar mit dem Tode bedroht. Und das im Jahr 2018. Ein viel größerer Skandal als das verfrühte Ausscheiden eines Weltmeisters.