Die Erzählung klingt schlüssig. Ein Wiederaufbaufonds wird der durch die Corona-Pandemie in wirtschaftliche Not geratenen Union wieder Kraft verleihen – und ein Zeichen der Solidarität senden. Die starken Schultern helfen den Schwachen. Weil diese Solidarität mit Dankbarkeit verbunden sein soll, werde das Programm auch die Populisten ausbremsen. Mehr Geld aus Brüssel gleich weniger Stimmen für Salvini und Co. - So die holzschnittartige Gleichung, die leider in der Vergangenheit selten aufgegangen ist.
Glänzen kann dagegen das historische Vorbild. Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten die USA mit ihrem Marshall-Plan einen Wiederaufbaufonds für Europa, der zur Legende geworden ist.
Derzeit aber gibt es in Europa wenig aufzubauen, keinen Mangel an Nahrungsmitteln, der zu lindern wäre. Es gibt vor allem Ansprüche zu finanzieren: Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld, Renten, Krankenversicherungsbeiträge. Die soziale Absicherung ist in Krisenzeiten noch teurer und die meisten Staatshaushalte stehen schon jetzt unter Stress. Doch für diese Haushaltslöcher ist die EU aktuell die denkbar ungeeignetste Adresse.
Gute und schlechte Schulden
Man kann nicht über Arbeitslosenunterstützung sprechen, wenn man nicht über die Dauer und Höhe der Hilfen streitet. Man kann nicht über Renten sprechen ohne das Renteneintrittsalter zu diskutieren. Doch ausländischen Wählern Mitsprache über eigene Haushaltsfragen zu gewähren, das will kein EU-Staat – schon gar nicht die Länder, die besonders laut nach Hilfen rufen.
Die Rettungspolitiker wissen, dass die "normale" Staatsfinanzierung über die Gemeinschaft den Bürgern nicht zu vermitteln ist und betonen: Es geht nicht um die "schlechten alten Schulden", sondern um "gute neue Schulden." Daher werden Zukunftsprojekte definiert, mit denen Europa stark gemacht werden soll. Natürlich denkt keiner an eine Neuauflage der mit EU-Geldern gebauten Geisterflughäfen in Spanien, aber wer garantiert, dass es dieses Mal besser läuft? Es muss schließlich mehr Geld in kürzerer Zeit ausgegeben werden. Auch die Bürger haben die Sollbruchstellen identifiziert: In Bulgarien gehen sie auf die Straße, weil die Angst umgeht, dass das Geld aus Brüssel erneut in dunklen Kanälen verschwindet.
Wie wird man ein guter Europäer?
Bezahlen für den Geldregen aus Brüssel wird die junge Generation. Irgendwann. Der griechische Soziologe Michael Kelpanides hat das europäische Bewusstsein dieser Generation in einer aufwendigen Studie vermessen. Und er ist dorthin gegangen, wo das Verständnis für die Nöte der anderen besonders groß sein müsste: an die älteste Europaschule des Kontinentes in Luxemburg. Sein ernüchterndes Studien-Fazit: "Das Zusammenkommen von sehr heterogenen nationalen Gruppen, die sich zuvor nur oberflächlich kannten, bringt ihnen erst zu Bewusstsein, wie unterschiedlich sie in Wirklichkeit sind. Und diese Einsicht kann statt Kohäsion ihre bewusste Absetzung voneinander zur Folge haben."
Kelpanides Studie ist nur ein Mosaikstein, aber sie zeigt: Wer an die wunderbare Idee der Europäischen Integration glaubt, darf die Bürger nicht überfordern.
Alternativprojekte
Nachdem nun die Würfel gefallen sind, sollte die EU das Geld aber dorthin lenken, wo die Europäer in Zukunft wirklich zusammen stärker werden müssen. In die gemeinsame Europäische Verteidigung zum Beispiel. Sie ist allerdings mit 7 Milliarden Euro bei den Verhandlungen nicht gerade üppig bedacht worden.
Die EU könnte auch dort weitermachen, wo es in der Krise das schönste Zeichen europäischer Solidarität gegeben hat. Mehrere EU-Staaten (und die Schweiz!) haben schwerkranke COVID-19-Patienten aus überfüllten Krankenhäusern in Norditalien oder Ostfrankreich aufgenommen. Ein europäisches Intensivbettenregister, die Zusage, dass sich in Krisenzeiten alle EU-Staaten bei der Gesundheitsversorgung unbürokratisch beistehen, Patientenbetten teilen, Medikamente austauschen und Masken nicht zurückhalten - das wäre ein historisches Signal.
Ein Signal, für das man noch nicht einmal Werbetafeln mit dem Hinweis aufstellen müsste: finanziert mit den Mitteln der Europäischen Union.