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Auf dem Rücken der Flüchtlinge

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
31. Juli 2015

Der Eurotunnel in Calais ist ein Symbol für die scheiternde Flüchtlingspolitik in Europa. Das Elend wird in Großbritannien instrumentalisiert. Das geht so nicht, meint Bernd Riegert.

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Frankreich Flüchtlinge am Eurotunnel Calais
Bild: Reuters/P. Rossignol

Eine britische Zeitung hat die Versuche von Flüchtlingen, den Kanaltunnel zu erreichen, mit der befürchteten Invasion Großbritanniens durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg verglichen. Populistische Nazi-Vergleiche laufen bei den Briten immer noch. Sie sind natürlich hanebüchener Unsinn. In dieser Woche haben es 100 bis 150 Flüchtlinge tatsächlich geschafft, den Tunnel als blinde Passagiere auf Zügen oder in Lastwagen zu durchqueren. Kann man bei dieser Zahl von einer Invasion oder "migrant madness" sprechen, so wie das britische Blätter tun? Nein.

Um so bedauerlicher, dass der britische Premierminister auf diese Übertreibungen hektisch mit Sitzungen des Sicherheitskabinetts reagiert. David Cameron sollte lieber erklären, warum sich seine Regierung beharrlich weigert, ihren Teil der europäischen Last zu tragen und in der Flüchtlingskrise dieses Sommers mehr Menschen aufzunehmen. Großbritannien hat in den ersten sechs Monaten des Jahres etwa 24.000 Asylverfahren eingeleitet. In Deutschland sind es 170.000, in Italien 60.000. Wo ist da die "Invasion"?

Populismus pur

Die enormen Staus vor Dover auf britischer Seite werden übrigens nur zu einem kleinen Teil von den zeitweisen Sperrungen der Tunnelröhren ausgelöst. Es ist vor allem der Streik der französischen Fähren, der zu den enormen Verkehrsstörungen führt. Heute titeln Zeitungen in Großbritannien und auch in anderen europäischen Ländern, die britische Armee solle wegen der Flüchtlinge am Kanaltunnel mobilisert werden. Auch das ist falsch. Die Armee soll höchstens den Verkehr im Süden Englands regeln und gestaute Lkw auf Kasernengelände zwischenparken. In dieser Woche des "Flüchtlingsdramas" wird also viel vermengt, um mit populistischen Thesen bei den Wählern in Großbritannien zu punkten.

Der Kern des Problems ist ein ganz anderer: Niemand weiß, wie die angespannte Situation in Calais zu lösen ist. Weder die französische, noch die britische Regierung, noch die Europäische Union haben ein Rezept. Die Flüchtlinge, die aus Syrien oder Nordafrika bis in den Norden Frankreichs gewandert sind, machen überdeutlich, dass die bisherigen Regeln nicht funktionieren. Eigentlich hätten sie bereits in Italien, Griechenland oder Bulgarien Asyl beantragen müssen, also in den Ländern, in denen sie zum ersten Mal EU-Territorium betreten haben. Bisher sind die EU-Innenminister daran gescheitert, ein neues System mit Einwanderungsquoten und sinnvollen Verteilungsschlüsseln zu etablieren. Übrigens auch wegen des Widerstandes aus Großbritannien und Deutschland.

Riegert Bernd Kommentarbild App
Bernd Riegert, Europa-Korrespondent

Die 3000 bis 5000 Menschen, die in Calais auf ihre Chance hoffen, müssten eigentlich von französischen Behörden entweder in die Länder zurückgeschoben werden, in denen sie zuerst ankamen, oder sie müssten Asylverfahren in Frankreich durchlaufen. Oder sie müssten, falls Asyl nicht gewährt werden kann, in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Das passiert aber nicht, weil die französischen Behörden seit Jahren wegschauen und es auch nur selten möglich ist, bei den Flüchtlingen festzustellen, wo sie die EU betreten haben oder aus welchem Staat sie überhaupt kommen.

Ein altes Problem

Die schlimme Situation in Calais ist nicht neu. Schon seit Ende der 1990er Jahre zeigt sich dort wie in einem Brennglas, dass in der europäischen Flüchtlingspolitik etwas Grundlegendes falsch läuft. Das erste Lager in Sangatte wurde 2002 geräumt. Sofort entstand ein neues wildes Camp, der Dschungel. Der wurde 2009 auch vorübergehend aufgelöst, aber die Flüchtlinge ließen sich nicht abhalten.

In diesem Sommer ist der Dschungel besonders groß, weil der Flüchtlingsdruck aus dem Mittelmeerraum insgesamt wächst. Die Zahlen über versuchte Grenzübertritte am Eurotunnel-Eingang in Calais werden von der Betreibergesellschaft dramatisiert. Von Tausenden Menschen war die Rede, die angeblich in einer Nacht den Tunneln stürmen wollten. Das ist falsch. Es waren kleinere Gruppen, die mehrfach versucht haben, Zäune zu überwinden und Züge zu erreichen. Nur wenige haben das wirklich geschafft.

Bislang waren hauptsächlich die LKW, die auf die Fähren verladen werden, das Ziel der Flüchtlinge. Seit diese aber besser abgeschirmt und kontrolliert werden, ziehen die Flüchtlinge vom Fährhafen zum Eurotunnel, weil sie dort eher eine (kaum vorhandene) Chance sehen, nach Großbritannien zu gelangen.

Kein Ausweg?

Was ist also zu tun? Die Flüchtlinge werden sich erst dann nicht mehr in Calais versammeln, wenn sie wirklich überhaupt keine Chance mehr haben, die britischen Inseln zu erreichen. Kurzfristig würde vielleicht eine konsequente Abschottung die Lage in Calais entspannen. Aber langfristig wird das Problem so nicht gelöst. Die Flüchtlinge würden sich andere Wege suchen, andere Häfen ansteuern oder vielleicht doch in Frankreich untertauchen. Eine Räumung des Flüchtlingslagers würde ebenfalls das Signal aussenden, dass die Wanderung nach Calais sinnlos ist. Aber aus humanitären Gründen wäre eine womöglich gewaltsame Räumung des Lagers äußerst schwierig.

Andererseits kann die französische Regierung auch nicht so weitermachen wie bisher und jede Nacht Flüchtlinge vom Tunnel-Gelände verjagen. Frankreich, die britische Regierung, aber auch die europäischen Politiker stehen vor einem wahren Dilemma.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union