Eurotunnel: Nadelöhr für Flüchtlinge
30. Juli 2015"Hey, es geht los! Wir versuchen es." Mit gedämpfter Stimme fordert ein Mann eine Gruppe von dreißig Flüchtlingen auf, ihm auf einem kleinen Trampelpfad zu folgen. Mehrere Stunden hat die Gruppe Afrikaner an einem Lagerfeuer in einem kleinen Wäldchen in der Nähe des Eurotunnel-Geländes gewartet. Jetzt um kurz nach Mitternacht schneidet ihr Schlepper mit einer Drahtschere ein Loch in den ersten Maschendrahtzaun, biegt scharfen Stacheldraht zur Seite.
Ein erster Flüchtling in signalroter Jacke schlüpft durch das Loch und klettert über den nächsten drei Meter hohen Stahlzaun. Schnell folgen ihm acht weitere junge Männer im gleißenden Scheinwerferlicht von drei Fernsehteams, die über die Lage am Kanaltunnel berichten wollen. Nach wenigen Minuten rollen auf der anderen Seite der Zäune vier Mannschaftswagen der Polizei mit Blaulicht heran. Die Zäune sind mit Sensoren ausgestattet. Jedes Loch wird an ein Lagezentrum in der Nähe der Tunneleinfahrt gemeldet. Sobald die Beamten auftauchen, ziehen sich die Flüchtlinge ruhig zurück.
Ablenken und durchbrechen
Etwa 200 Sicherheitskräfte der Eurotunnel-Gesellschaft und 300 französische Gendarmen sind in dieser Nacht im Einsatz. Hunderte Flüchtlinge versuchen in kleinen Gruppen, auf das Gelände vorzudringen. Etwa 100 bis 150 schafften es über die Zäune und wurden von den Sicherheitskräften aufgegriffen, teilt die Eurotunnel-Gesellschaft am frühen Morgen mit. Wie viele von den Flüchtlingen es tatsächlich fertigbringen, auf einen der Güterzüge aufzuspringen oder sich in einem LKW zu verstecken, um als blinde Passagiere die rund 50 Kilometer unter dem Ärmelkanal hindurch nach Großbritannien zu fahren, ist unklar. Offizielle Zahlen gibt es dazu nicht.
Seit Wochen versuchen jede Nacht wohlorganisierte Gruppen von Flüchtlingen, die Polizei an mehreren Stellen der Zäune zu beschäftigen und abzulenken, damit einige durchkommen können. In dieser Woche waren es besonders viele. Die französische Polizei spricht von bis zu 3500 aufgegriffenen Flüchtlingen. Zu gewalttätigen Ausschreitungen kam es aber nicht.
Aus Sicherheitsgründen werden die beiden Tunnelröhren, die nahe Calais ins Erdreich führen, zeitweise gesperrt. Manchmal blockieren hunderte Flüchtlinge eine der vielen Autobahnauffahrten oder ein Gleis. Das führt zu stundenlangen Verspätungen im Pendelverkehr durch den Tunnel und Staus in Calais und an der Tunneleinfahrt im britischen Dover. Seit Anfang Juni hat es nach Schätzungen französischer Medien neun Todesopfer gegeben. Entweder wurden Flüchtlinge in der Dunkelheit von LKWs erfasst oder überlebten das Aufspringen auf die Güterzüge nicht.
"Ich will zu meiner Frau"
Ein etwa 40 Jahre alter Flüchtling aus Syrien, der sich Hamid nennt und nicht erkannt werden will, erzählt, dass er es in dieser Nacht auch wieder versuchen will. Zusammen mit seinem Neffen war er viele Monate über Land quer durch Europa unterwegs, um nach Großbritannien zu gelangen. "Da drüben lebt bereits meine Frau", sagt Hamid und deutet mit der Hand in Richtung Küste. "Ich will zu ihr, darum will ich nach England." Was ihn genau in Großbritannien erwartet und wie die Behörden reagieren, wenn sie ihn schnappen sollten, weiß er nicht.
Seit einer Woche haust Hamid im "Dschungel" von Calais. So nennen die Flüchtlinge und die Einheimischen die wilde Ansammlung von Verschlägen und Zelten im Osten der Stadt. Geschätzte 3000 bis 5000 Flüchtlinge warten im eigentlich illegalen Dschungel auf ihre Chance. Jede Nacht legen sie den acht Kilometer langen Fußweg vom Camp bis zum Gelände des Kanaltunnels zurück. Hamid und sein Neffe sind in dieser Nacht allein unterwegs. Sie wollen den Lohn für den Schlepper sparen, mehrere hundert Euro werden kassiert.
Ihr Weg führt die Flüchtlinge auch vorbei am riesigen Shoppingcenter, an Kinos und Schnellrestaurants, die direkt neben dem Tunnel-Terminal für die Touristen gebaut wurden. Während die einen ihre prall gefüllten Tüten am Tag zum Auto tragen, huschen die anderen mit nichts als ihren Kleidern am Leib über den Parkplatz Richtung Tunnel. Das Einkaufzentrum trägt den passenden Namen: Europa-Stadt.
Die Hilfsorganisationen, die täglich kostenlose Mahlzeiten für einige hundert Flüchtlinge ausgeben, sprechen davon, dass der Druck zunimmt. Immer mehr Menschen, vornehmlich aus Syrien, Eritrea und Sudan, wollen ihr Glück am Tunnel versuchen. Die Lastkraftwagen, in denen sich die Flüchtlinge bislang versteckt haben, um auf einer Fähre von Calais über den Ärmelkanal zu fahren, werden immer stärker kontrolliert. "Ich weiß, dass es schwierig und gefährlich ist, in den Tunnel zu kommen", sagt Hamid und zuckt mit den Schultern. "Aber ich habe ja keine Wahl. Oder weißt du einen besseren Weg? Vielleicht doch am Hafen mit der Fähre?"
Seit Jahren keine Lösung
Die Stadt Calais lebt seit 1999 mit den Flüchtlingen. Damals entstand das erste wilde Lager im Westen der Stadt. Das ließ der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy 2003 räumen. Wenig später entstand ein neues Lager im Osten der Stadt, nicht weit von der Autobahn zum Fährhafen. Auch auf einigen Brachflächen sammeln sich immer wieder Flüchtlingsgruppen.
Hinter einem Discount-Supermarkt, ganz dicht an einem Autobahnzubringer, lagern in dieser Nacht Dutzende von Flüchtlingen, darunter Frauen und Kinder. Die Frauen dürfen tagsüber noch in den Supermarkt, um etwas Brot, Nudelsauce und Getränke zu kaufen. Die Sicherheitskräfte, die die Eingänge bewachen, lassen die jungen afrikanischen Männer nicht mehr in das Gebäude. Nur weiße Franzosen werden durchgewunken von einem Sicherheitsmitarbeiter, der erkennbar selbst afrikanischer Abstammung ist.
Die britische Regierung verlangt von der französischen regelmäßig, die Sicherheitsmaßnahmen an der französischen Tunneleinfahrt zu verschärfen. London gibt Geld, um Zäune und Absperrungen zu verstärken. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve versprach, 120 zusätzliche Polizisten vorübergehend nach Calais zu verlegen, verlangte aber auch von den Tunnelbetreibern, mehr zu tun. Der Chef der Eurotunnel-Gesellschaft, Jacques Gounon, sieht das anders. Er findet, Großbritannien und Frankreich müssten sich stärker um "das europäische Problem der Flüchtlinge kümmern". Er verlangt einen finanziellen Ausgleich in Höhe von knapp zehn Millionen Euro für die hohen Sicherheitskosten.
Der britische Premierminister David Cameron schaltete sich in dieser Woche auch in den Streit ein. Er sorge sich sehr um die britischen Touristen, die vor dem Tunnel in Dover im Stau stehen, sagte Cameron während einer Reise nach Singapur. Die britische rechtspopulistische "Unabhängigkeitspartei" (UKIP) forderte gar den Einsatz des Militärs, um Flüchtlinge abzuschrecken.
Von diesen politischen Querelen bekommt der Syrer Hamid nicht viel mit. Er muss sein Überleben organisieren, hält über das Handy Kontakt zu seiner Frau in England. Müde setzt er sich nach stundenlangem Warten am Straßenrand ins Gras. Er zündet sich einen verknitterten Zigarettenstummel an und nimmt einen tiefen Zug. Dann seufzt er. "In Syrien, vor dem Krieg, hatte ich einen Laden, und jetzt das hier."