Klare Verhältnisse
21. Juli 2007Vielleicht sind es die Politiker der säkularen Oppositionsparteien in der Türkei, die in diesen Tagen beten. Für schlechtes Wetter, einen grandiosen Fauxpas von Premier Recep Tayyip Erdogan in letzter Minute, zuviel Siegesgewissheit bei seinen Anhängern. Egal was - Hauptsache die Wähler von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bleiben am Sonntag (22.7.) zu Hause. Denn alles deutet darauf hin, dass die moderat-islamische AKP bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am Wochenende einen weiteren Erdrutschsieg davon trägt.
Fast alle Umfragen gehen von mindestens 40 Prozent der Stimmen für die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten aus. Das wären sechs Prozent mehr als bei den letzten Wahlen 2002. Die einzige andere Partei, die damals den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde schaffte, ist die linksorientierte kemalistische Republikanische Volkpartei (CHP). Keine Glaskugel sagt ihr allerdings für den Sonntag ein besseres Ergebnis voraus als die 19 Prozent aus der letzten Wahl. Dennoch könnten beide Parteien im nächsten Parlament auf weniger Stühlen sitzen. Die rechtsgerichtete Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) dürfte nämlich mit rund elf Prozent diesmal den Einzug ins Parlament schaffen.
Mehr Stimmen, weniger Sitze
2002 errang die AKP mit 363 der insgesamt 550 Sitze nur vier weniger als die Zweidrittel-Mehrheit. Die ist notwendig um Verfassungsänderungen vorzunehmen. Mit den Nationalisten im neuen Parlament, wären es voraussichtlich nur noch 310 bis 340 Sitze - immer noch eine satte absolute Mehrheit. Wohl um sicherzustellen, dass hier nichts anbrennt, machte Erdogan am Dienstag klar, dass er sich aus der Politik zurückziehen werde, sollte seine AKP doch weniger als 276 Sitze erhalten.
Anfang Mai hatte die regierende AKP verkündet, die Wahlen um vier Monate vorzuziehen, nachdem das Verfassungsgericht ein Parlamentsvotum kassiert hatte, das den konservativen AKP-Politiker Abdullah Gül zum Präsidenten gemacht hätte. Das Amt hat traditionell immer ein Säkularist bekleidet. Den zugrunde liegenden Streit haben die Oppositionsparteien aber nur bedingt erfolgreich im Wahlkampf nutzen können. Im Spektrum zwischen islamistischem Erbe und liberaler Erfolgspolitik haben sie immer wieder versucht, die AKP am konservativen Ende zu verorten. Ihr Mantra: Das liberale, demokratische Posieren der Regierungspartei verbirgt eine versteckte islamistische Agenda.
Islamismus vs. Säkularismus ein Elitenstreit?
Tatsächlich sei der Streit zwischen Säkularisten und religiös Orientierten eine Fehde zwischen Eliten "der alten Türkei und der neuen", sagt Wolfango Piccoli, Türkei-Experte bei Eurasia Group, einer internationalen Politikberatung. Viele Mitglieder der gebildeten, westlich orientierten Oberschicht in Metropolen wie Istanbul und Ankara wollen nicht so recht glauben, dass die AKP eine Islamisierung des Landes ad acta gelegt hat. Sprichwörtlich auf der anderen Seite ist eine aufstrebende Mittelschicht aus dem Osten des Landes, die wertkonservativ und pragmatisch zugleich ist. "Diese Gruppe hat am meisten von der wirtschaftsliberalen Politik der Regierung Erdogan profitiert", sagt Piccoli.
Bei nüchterner Betrachtung dessen, was die Administration Erdogan politisch umgesetzt hat, "gibt es absolut keinen Hinweis auf eine islamistische Agenda", stellt Piccoli fest: Politische Reformen, bessere Menschenrechtsstandards, prowestliche marktliberale Wirtschaftspolitik - alles Dinge, die die AKP bei weitem nicht ideal aber offensichtlich besser bewerkstelligt hat als die Vorgängerregierungen. Das trifft auch für die erfolgreiche Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu (die, weil festgefahren, im aktuellen Wahlkampf beinahe keine Rolle spielen). Andererseits gab es Vorschläge, wie den im Jahr 2004, außereheliche Beziehungen unter Strafe zu stellen. Doch nach einem lauten Husten der Opposition hatte die AKP den Entwurf beinahe in gleichen Augenblick wieder vom Tisch genommen. Wahrscheinlicher ist, dass mit solchen kurzlebigen Vorstößen die konservativsten Kreise der AKP-Wählerschaft bei Laune gehalten werden sollen.
Wählen mit der Geldbörse im Kopf
Ideologische Grabenkämpfe hin oder her. "Eigentlich haben die meisten Türken bei der Wahl hauptsächlich eines im Kopf - ihre Geldbörse", meint Piccoli. Und da kann die AKP-Regierung Fakten sprechen lassen. Die Wirtschaft wächst jährlich um sechs bis acht Prozent, die Inflationsrate, die jahrelang teils im hohen zweistelligen Bereich gelegen hatte, ist unter Erdogans Ägide in den vergangenen Jahren auf konstant unter zehn Prozent geschrumpft und das Volumen ausländischer Direktinvestitionen hat sich zwischen 2003 und 2006 mehr als verzehnfacht.
Allein die Arbeitslosenrate hat sich kaum verbessert und scheint auf ihrem Zehnprozent-Sockel festgewachsen. Eigentlich ein gefundenes Fressen für die Opposition. Denn was bringt der Aufschwung, wenn er nicht beim Einzelnen ankommt? Aber bei denen, die am meisten davon betroffen sind, können sowohl CHP als auch MHP kaum punkten. In den mehrheitlich von Kurden bewohnten Städten im Osten wie Diyarbakir liege die Arbeitslosenquote bei mehr als 40 Prozent, sagt Piccoli. Doch beide Parteien verteidigen traditionelle nationalistische Vorstellungen vom starken türkischen Staat, der noch entschiedener gegenüber den Kurden auftreten müsse.
AKP auch bei Kurden immer beliebter
Umgekehrt ist es die stark gestiegene Zahl tödlicher Übergriffe kurdischer PKK-Rebellen auf türkische Soldaten im Osten des Landes, die der nationalistischen MHP vermutlich die entscheidenden Stimmen bescheren wird, um am Sonntag über die Zehn-Prozent-Hürde zu klettern.
Die regierende AKP ist offenbar auf dem Weg, das Kurdenproblem auf eigene Art zu lösen. Auf Parlamentssitze hoffen können am Sonntag zwar auch rund 25 bis 35 unabhängige Kandidaten, die von der pro-kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) unterstützt werden. Doch in ihren Hochburgen verliert die DTP zusehends Stimmen an die AKP. "In Diyarbakir kam sie 2002 noch auf 60 Prozent, die AKP auf 15", sagt Fadi Hakura vom Royal Institute of International Affairs in London. "Bei den Kommunalwahlen 2004 lag die AKP schon bei 31 Prozent, die DTP erreichte nur noch 40. Nach den Prognosen wird sich dieser Trend am Sonntag fortsetzen", so Hakura. Mit der AKP nehme erstmals eine Partei die Kurden als legitime Minderheit mit eigenen Interessen ernst, begründet er die Entwicklung.
Wirtschaft hofft auf Erdogan-Sieg
Die regierende AKP hat scheinbar alle Trümpfe in der Hand. Von Erdogans Erfolg profitieren nicht zuletzt die säkularen Wirtschaftseliten der Türkei, meint Hakura. Opposition ist für diese beinahe zum ideologischen Luxus geworden. "Ihr Herz schlägt für die Kemalisten und viele werden sie auch wählen", sagt Hakura, "doch insgeheim hoffen sie auf ein starkes Mandat für niemanden anders als Erdogan."