Weichenstellungen in der Türkei
26. April 2007Die Behandlung des Armenien-Themas in der Türkei, genauer gesagt, des Themas Vertreibung und Völkermord an den Armeniern, berührt auch die Aussichten des Beitrittsbewerbers für eine EU-Mitgliedschaft. Denn bei diesem Thema zeigt sich besonders deutlich, inwieweit die Türkei sich zu Meinungsfreiheit und Pluralismus bekennt.
Die Europäische Union erwartet vom Beitrittsbewerber Türkei, dass der Strafrechtsparagraf 301 geändert wird. So steht es im letzten Fortschrittsbericht zur Türkei, einer Art Zeugnis der EU-Kommission vom Herbst 2006. Der berühmt-berüchtigte Paragraf, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, wurde in der Vergangenheit immer wieder von den Anklagebehörden benutzt, um Journalisten und Schriftsteller vor Gericht zu stellen, die die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern im osmanischen Reich im Jahr 1915 Völkermord nennen.
Langwieriger Streit um § 301
Diese Meinung zu vertreten, kann in der Türkei lebensgefährlich sein, was die EU mit großer Sorge sieht. Am 19. Januar war in Istanbul der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink erschossen worden. EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering forderte damals erneut eine Abänderung des Strafrechtsparagrafen 301. Sehr zum Verdruss von EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn zieht sich der Streit um den 301 und den Völkermord an den Armeniern, wie das Europäische Parlament die Massaker bezeichnet, schon lange hin. Bereits anlässlich des Fortschrittsberichts 2005 forderte Olli Rehn: "Das Strafrecht muss so geändert werden, dass die Meinungsfreiheit nicht von den persönlichen Ansichten von Bezirksrichtern abhängt. Sie muss auf der Grundlage der Menschenrechtskonvention garantiert werden."
Gemäßigter Kurs gegen Prominente?
Bislang macht der türkische Justizminister wenig Anstalten, den Paragrafen 301 zu ändern. Das sei, so der Verhandlungsführer für den EU-Beitritt, Ali Babacan, zurzeit gegen die Konservativen und Nationalisten nicht durchzusetzen, schon gar nicht im Wahlkampf, der in der Türkei ansteht. Allerdings hat man in Brüssel aufmerksam registriert, dass nach spektakulären Prozessen gegen prominente Journalisten die Staatsanwaltschaft in Istanbul Ende Januar einen gemäßigteren Kurs einzuschlagen schien. Damals lehnte sie eine Anklage gegen den Historiker Taner Akcam trotz seiner kritischen Einlassungen zur Armenierfrage ab.
EU fährt zweigleisig
In Frankreich hat die erste Parlamentskammer ein Gesetz beschlossen, dass die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe stellt. Und vor kurzem haben die EU-Justizminister einen Rahmenbeschluss gefasst, der die Leugnung jeglichen Völkermordes unter Strafe stellt. Wenn die Türkei der EU beitreten will, wird sie sich irgendwann diesem Beschluss unterordnen müssen. Gleichzeitig wirbt die EU dafür, dass sich die Nachbarstaaten Türkei und Armenien annähern und normale Beziehungen aufnehmen. Eine stabile Schwarzmeer-Region sei ebenso wichtig wie die Meinungsfreiheit, heißt es in der EU-Kommission.
Bernd Riegert Brüssel
DW-RADIO, 24.4.2007, Fokus Ost-Südost