Kein "Rabatt" im Krieg - der Weg der Ukraine in die EU
9. November 2023EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem "historischen" Tag. Am 8. November empfahl das von ihr geleitete Exekutivorgan der Europäischen Union formell, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und der Republik Moldau aufzunehmen. Endgültig darüber entscheiden müssen die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen im Dezember.
Widerspruch aus Ungarn und Polen
Die Entscheidung dürfte positiv ausfallen, obwohl einige Länder mögliche Einwände angedeutet haben - das erklären deutsche Experten gegenüber der DW. So hat Ungarn angekündigt, die Aufnahme von Verhandlungen mit der Ukraine zu blockieren, solange die Rechte der ungarischen Minderheit verletzt würden. Nach Ansicht Budapests geschieht das durch ein ukrainisches Bildungsgesetz, das den Schulunterricht nur eingeschränkt in den Sprachen der ethnischen Minderheiten erlaubt.
Die Ukraine hat sich bereits auf mögliche Einwände aus Budapest vorbereitet. Der Ministerin für europäische und euroatlantische Integration Olha Stefanischyna zufolge hat Kiew der ungarischen Regierung inzwischen eine Roadmap übergeben, die eine Lösung aufzeigt.
André Härtel, Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ist in diesem Punkt optimistisch. Er glaubt, dass Ungarn der Ukraine doch grünes Licht geben könne.
Doch hier enden auch schon seine positiven Perspektiven. Er weist auf eine Reihe von Problemen hin, mit denen die Ukraine auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU konfrontiert sein wird. "Wir haben das relativ schlechte Beispiel in der Erweiterungspolitik mit den Westbalkanstaaten und der Türkei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, weil wir viele im sogenannten Warteraum haben - mit Kandidatenstatus und Beitrittsgesprächen, die überhaupt nicht vorangekommen sind." Härtel schließt nicht aus, dass dies auch der Ukraine widerfahren könnte - aufgrund der Größe des Landes, seines sowjetischen Erbes, seiner schwachen Institutionen und des hohen Maßes an Korruption.
Ein weiteres Hindernis könnte Polen der Ukraine in den Weg legen. In einem Interview mit dem polnischen Radiosender ZET sagte der stellvertretende polnische Außenminister Pawel Jablonski, dass die Ukraine der Exhumierung der Opfer des Massakers von Wolhynien zustimmen müsse, wenn sie der EU beitreten wolle.
Während des Zweiten Weltkriegs hatten ukrainische Nationalisten in den ehemaligen polnischen Ostgebieten Massaker an der polnischen Bevölkerungsgruppe verübt. Polen möchte die Opfer exhumieren lassen, die ukrainische Regierung hat das Vorhaben vor mehreren Jahren gestoppt.
Assoziierungsabkommen erleichtert Verhandlungen
Doch das größte Problem, das den Weg Kiews in die EU verlangsamen kann, ist Härtel zufolge Russlands Krieg gegen die Ukraine. "Es gibt keine Antwort auf die Frage, wie ein Land, das viele Ressourcen in diesem Abwehrkampf braucht, den Acquis (die Gesamtheit des gültigen EU-Rechts, Anm. d. Red.) vollständig umsetzen soll - und das in einer sehr kurzen Zeit von einigen Jahren", so der Experte. Zuvor hatte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, das Jahr 2030 als mögliches Beitrittsdatum der Ukraine genannt.
Die Ukraine dürfe nicht erwarten, dass die EU ihr aufgrund des Krieges politische Zugeständnisse mache, meint der Berliner Politologe Kai-Olaf Lang, Härtels Kollege in der SWP. Ebenso wenig solle die Ukraine darauf hoffen, dass europäische Geldhähne bereits während der Verhandlungen geöffnet würden. Es gebe zwar "Vorbeitrittshilfen", sagt Lang, aber die seien "nicht wahnsinnig üppig". Der Experte rechnet zum Beispiel mit schwierigen Verhandlungen zu Fragen der Agrarpolitik, einem der wichtigsten Finanzkörbe der EU.
Auch der freie Warenverkehr könnte zu Spannungen führen - er zählt zu den vier zentralen Freiheiten der EU. Als Beispiel nennen Experten den Streit zwischen der Ukraine und Polen, bei dem etwa polnische LKW-Fahrer einige Grenzübergänge zur Ukraine blockieren, weil sie Konkurrenz fürchten.
Kai-Olaf Lang sieht allerdings Chancen für eine rasche Annäherung in Bereichen, wo sie bereits begonnen hat, etwa in der Energiepolitik. Die Experten, mit denen die DW gesprochen hat, betonen, dass die Ukraine Verhandlungen nicht bei Null beginnen werde, da sie schon über ein geltendes Assoziierungsabkommen mit der EU verfüge.
Kiew könnte zudem die Tatsache helfen, dass aus Sicht der EU jede Hilfe für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg gleichzeitig Unterstützung für ein künftiges Mitglied ist, so Anastasia Pociumban von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit der DW.
Korruptionsbekämpfung bleibt Hauptaufgabe
Damit die EU-Staaten dem sogenannten Verhandlungsrahmen, dem technischen Dokument, mit dem die Gespräche tatsächlich beginnen, zustimmen können, muss Kiew noch seine Hausaufgaben erledigen - nämlich ein Gesetz verabschieden, das die Nationalen Anti-Korruptions-Büros (NABU) personell besser ausstattet, sowie gesetzliche Bestimmungen streichen, die die Befugnisse der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention bislang einschränken. Die Lobbyarbeit muss nach europäischen Standards geregelt und damit die Macht von Oligarchen beschnitten werden.
Um die Korruption wirksam zu bekämpfen, muss müssen außerdem die Strafprozessordnung und das Strafgesetzbuch so überarbeitet werden, dass Fälle von Bestechlichkeit hochrangiger Beamter effizient und ohne Verfahrensverzögerungen bearbeiten werden.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk