Kanzler Olaf Scholz: "Klare Kante gegen Antisemitismus"
Veröffentlicht 19. Oktober 2023Zuletzt aktualisiert 19. Oktober 2023
Das Wichtigste in Kürze:
- Scholz: Für Antisemitismus ist kein Platz in Deutschland
- Ägypten will Hilfslieferungen in den Gazastreifen ermöglichen
- Deutsche sollen Libanon verlassen
- Luftwaffe bringt weitere Bundesbürger zurück
Bundeskanzler Olaf Scholz hat ein energisches und konsequentes Vorgehen der deutschen Behörden gegen Antisemitismus und Gewaltverherrlichung angekündigt. Die Behörden dürften keine Demonstrationen zulassen, bei denen antisemitische Parolen gebrüllt würden und Gewalt verherrlicht werde, sagte Scholz in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag in Berlin. "Es ist hier eine klare Kante angebracht und wir zeigen sie gemeinsam in Deutschland." Antisemitismus "ist in Deutschland fehl am Platz", bekräftigte er.
Der Kanzler äußerte sich auch zu den deutschen Staatsbürgern, die von der Terrororganisation Hamas von Israel aus in den Gazastreifen verschleppt worden sind. Er forderte nochmals ihre sofortige Freilassung. Die Botschaft an die Hamas sei klar: "Sie müssen ohne Vorbedingungen freigelassen werden." Im Bundestagsplenum saßen Angehörige der Geiseln.
Mit Blick auf den EU-Gipfel Ende Oktober betonte der Kanzler zudem, die Europäische Union stehe geschlossen an der Seite Israels.
Generalstaatsanwaltschaft ermittelt zu versuchtem Brandanschlag auf Synagoge
Nach dem versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Mitte hat die Generalstaatsanwaltschaft der Hauptstadt die Ermittlungen an sich gezogen. Sie begründete dies mit dem eskalierenden Charakter des Angriffs. In der Nacht zum Mittwoch hatten zwei Vermummte Brandsätze in Richtung der Synagoge geschleudert. Die Flaschen schlugen auf dem Gehweg auf und verfehlten das Gebäude knapp.
Bundesweit haben seit dem beispiellosen Terrorüberfall auf Israel antisemitische Vorfälle zugenommen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus dokumentierte seither bundesweit 202 Vorfälle - 240 Prozent mehr als in der gleichen Zeit des Vorjahrs.
Außerdem finden in Deutschland seither immer wieder nicht genehmigte Unterstützungskundgebungen für die Hamas statt. Mehrfach kam es zu schweren Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Mehr als 200 Menschen verschleppt
Hunderte Hamas-Terroristen hatten am 7. Oktober israelische Grenzanlagen überwunden und Soldaten wie auch wehrlose Zivilisten getötet. Etliche Opfer wurden gefoltert. Hunderte Personen wurden in den Gazastreifen verschleppt. Die Hamas feuerte Tausende Raketen auf Israel ab.
Nach jüngsten Angaben des israelischen Militärs wurden bei der Attacke mehr als 1400 Menschen auf eigenem Gebiet getötet und über 200 Personen als Geiseln entführt. Bei darauf folgenden israelischen Angriffen wurden nach Zahlen der Hamas-Behörden mehr als 3700 Menschen im Gazastreifen getötet. Die Hamas wird außer von Israel auch von den USA, der EU, Deutschland und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft.
Tödliche Zusammenstöße im Westjordanland
Bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee im Westjordanland sind nach Angaben dortiger Behörden mindestens neun Palästinenser getötet worden, davon sieben im Flüchtlingslager Nur Schams. Die Zahl der Menschen, die in dem besetzten Gebiet seit dem Großangriff auf Israel getötet wurden, sei damit auf mindestens 73 gestiegen, hieß es. In dem Lager nahe der Stadt Nablus führte das israelische Militär nach eigenen Worten einen Einsatz zur "Abwehr terroristischer Aktivitäten" durch. Im Zuge dessen sei auch ein israelischer Grenzpolizist durch einen improvisierten Sprengsatz getötet worden, teilten israelische Medien unter Berufung auf die Polizei mit.
Israelische Sicherheitskräfte haben seit der koordinierten Attacke der Hamas bei Anti-Terror-Einsätzen im Westjordanland 524 Verdächtige festgenommen. Unter ihnen befänden sich mehr als 330 aktive Mitglieder der Hamas, teilte das israelische Militär mit. Zudem seien mehr als 50 Waffen konfisziert worden. Die Sicherheitslage im Westjordanland ist seit der Terrorattacke auf Israel zunehmend angespannt.
Während der Gazastreifen von der Hamas beherrscht wird, regiert in den Gebieten des Westjordanlands, die unter palästinensischer Kontrolle stehen, die von der Fatah dominierte Palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas. In der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlands gibt es nach wie vor großen Rückhalt für die Hamas.
Das von Israel besetzte Westjordanland war mit dem ersten Oslo-Abkommen von 1993 in drei Bereiche aufgeteilt worden: in die sogenannten A-Gebiete, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert werden, sodann B-Gebiete, die unter palästinensischer Zivilkontrolle, aber israelischer Sicherheitskontrolle stehen, und schließlich die C-Gebiete, die vollständig unter israelischer Kontrolle stehen und die derzeit etwa 60 Prozent des Westjordanlandes umfassen. Nach einem ursprünglichen Zeitplan hätten große Teile des Gebiets unter palästinensische Kontrolle gestellt und die israelischen Streitkräfte aus dem besetzten Westjordanland abgezogen werden sollen. Die israelische Militärbesatzung hält jedoch im gesamten Westjordanland bis heute an.
Ägypten will Grenzübergang zum Gazastreifen öffnen
Ägypten zeigt sich bereit, Lastwagen mit humanitären Gütern über die Grenze in den Gazastreifen zu lassen. "Für den Anfang" habe ihm Staatschef Abdel Fattah al-Sisi in einem Telefonat zugesagt, dass "bis zu 20 Laster" den Grenzübergang Rafah passieren dürften, berichtete US-Präsident Joe Biden. Danach könnten möglicherweise weitere Hilfslieferungen folgen. Vertreter der Vereinten Nationen würden sich um die Verteilung der Güter kümmern. Biden betonte aber, sollte die im Gazastreifen herrschende Terrororganisation Hamas die Lieferungen konfiszieren, "dann hört es auf".
Biden äußerte sich bei einem Tank-Zwischenstopp auf dem US-Militärstützpunkt Ramstein in Deutschland. In Tel Aviv war er am Mittwoch unter anderem mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu zusammengekommen. Schon kurz nach dem Treffen hatte Netanjahu angekündigt, sein Land werde humanitäre Hilfslieferungen aus Ägypten in den Gazastreifen nicht behindern. Von israelischem Territorium aus würden aber keine Lieferungen für die Bevölkerung im Gazastreifen starten, bis die Hamas alle aus Israel verschleppten Geiseln freigelassen habe.
Der staatsnahe ägyptische TV-Sender Al Kahera News meldet unter Berufung auf nicht näher genannte Quellen, der Grenzübergang Rafah werde an diesem Freitag für Hilfslieferungen geöffnet. In Rafah befindet sich der einzige nicht von Israel kontrollierte Zugang zum Gazastreifen.
UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats: "Wir brauchen dringend einen Mechanismus, auf den sich alle relevanten Parteien einigen, um die regelmäßige Bereitstellung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen zu ermöglichen und die Verteilung der Hilfe wieder auf das Niveau zu bringen, das vor diesen schrecklichen Wochen herrschte - mit 100 Lastwagen pro Tag, die Menschen in Not im gesamten Gazastreifen versorgten. Wir müssen zu dieser Zielsetzung zurückkehren."
Auch Bundeskanzler Scholz betonte in seiner Regierungserklärung im Bundestag die Notwendigkeit, der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen schnellstmöglich humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Sie sei ebenso Opfer des Terrors. Hierüber habe er sowohl mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu als auch mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi gesprochen.
Großbritannien unterstütze Israels Recht auf Selbstverteidigung in Einklang mit dem Völkerrecht. "Ich weiß, dass Sie jede Vorsichtsmaßnahme ergreifen, um zu vermeiden, dass Zivilisten zu Schaden kommen, im Gegensatz zu den Terroristen der Hamas", erklärte Sunak. Netanjahu habe von der dunkelsten Stunde Israels gesprochen, so der britische Premier. "Dann ist es an mir zu sagen: Ich bin stolz, hier mit Ihnen in Israels dunkelster Stunde zu stehen - als Ihr Freund." Großbritannien werde Israel solidarisch zur Seite stehen.
Geheimdienste: Weniger Tote nach Klinik-Beschuss als von Hamas genannt
Nach der tödlichen Explosion auf einem Krankenhausgelände in Gaza-Stadt am Dienstag herrscht weiter Unklarheit über die Opferzahlen. Die Nachrichtenagentur AFP zitiert eine ungenannte Quelle "aus europäischen Geheimdienstkreisen" mit den Worten, es gebe "nicht 200 oder gar 500 Tote, sondern eher ein paar Dutzend, wahrscheinlich zwischen zehn und 50". Israel sei "wahrscheinlich nicht" für die Detonation einer Rakete verantwortlich, darauf deuteten den Geheimdiensten vorliegende Indizien hin.
In einem US-Geheimdienstbericht, aus dem die Nachrichtenagentur Reuters zitiert, wird die Zahl der Todesopfer auf "wahrscheinlich zwischen 100 und 300" geschätzt. Zugleich heiße es in dem Papier, dass diese Einschätzung sich noch ändern könne.
Die Hamas hatte mehr als 470 Todesopfer gemeldet und Israel die Schuld für den Vorfall zugewiesen. Die israelische Armee beschuldigte hingegen die Palästinensermiliz Islamischer Dschihad und legte nach eigener Darstellung "Beweise" dafür vor. Der Islamische Dschihad wird - ebenso wie die Hamas - sowohl von Israel als auch von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und weiteren Ländern als Terrororganisation eingestuft.
Die Vereinigten Staaten stellten sich hinter die israelische Darstellung: "Basierend auf den Informationen, die wir bislang gesehen haben, scheint es die Folge einer fehlgeleiteten Rakete zu sein, die von einer Terroristengruppe in Gaza abgefeuert wurde", erklärte US-Präsident Biden.
Lesen Sie dazu auch: Raketeneinschlag bei Gaza-Klinik: Was bis jetzt bekannt ist
Israels Außenminister: Gazastreifen wird schrumpfen
Ungeachtet der Warnungen aus den USA plant Israel womöglich eine Teil-Besetzung des Gazastreifens. Außenminister Eli Cohen sagte dem israelischen Armee-Radio: "Am Ende dieses Krieges wird die Hamas nicht nur nicht mehr in Gaza sein - auch das Territorium von Gaza wird kleiner werden." Israelische Medien interpretierten das als einen Hinweis, dass die Armee versuchen könnte, eine Pufferzone innerhalb des Gazastreifens zu schaffen, um Israels südliche Grenzstädte besser gegen Attacken wie die vom 7. Oktober zu schützen.
Der UN-Koordinator für den Friedensprozess im Nahen Osten machte derweil deutlich, dass er eine große Gefahr für eine Ausweitung des Gaza-Kriegs sehe. "Aufgrund meiner Treffen und der Dynamik, die ich vor Ort beobachte, würde ich Folgendes sagen: Die Gefahr einer Ausweitung dieses Konflikts ist real - sehr, sehr real - und äußerst gefährlich", sagte Tor Wennesland vor dem Weltsicherheitsrat in New York.
Deutsche sollen Libanon verlassen
Das Auswärtige Amt (AA) hat deutsche Staatsbürger im Libanon aufgefordert, das Land wegen der angespannten Sicherheitslage zu verlassen. Die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Beirut verwies auf kommerzielle Fluglinien: "Nutzen Sie diese Ausreisemöglichkeiten, solange Sie noch verfügbar sind."
Auch Flüge mit Zwischenstopps in Zypern, der Türkei oder anderen Ländern seien zu empfehlen, falls keine Direktflüge nach Deutschland verfügbar seien. Militärische Auseinandersetzungen im Grenzgebiet zu Israel könnten jederzeit eskalieren. Eine Ausreiseaufforderung sprach das AA auch für Deutsche im Westjordanland aus. Nähere Hinweise zu den Reisewarnungen finden sich auf der Website des Auswärtigen Amtes.
Zuvor hatten bereits mehrere Staaten vor Reisen in den Libanon gewarnt. Die USA, Großbritannien und Saudi-Arabien forderten ihre Bürger auf, das Land, das im Süden an Israel grenzt, so schnell wie möglich zu verlassen.
Pistorius besucht deutsche Soldaten im Libanon
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat die UN-Mission UNIFIL im Libanon besucht. Die Bundeswehr beteiligt sich derzeit mit rund 140 Soldaten an dem Einsatz. Die deutschen Soldaten verrichten ihren Dienst im Hauptquartier in Naqura, im südlichen Libanon, und auf der deutschen Korvette "Oldenburg", die vor der libanesischen Küste kreuzt.
Das Verteidigungsministerium teilte im Onlinedienst X, ehemals Twitter, weiter mit, Pistorius habe den Soldatinnen und Soldaten für deren Einsatz gedankt und sich über die Auswirkungen des Konflikts in Israel und Gaza auf das deutsche Kontingent informiert. Ziel der UN-Mission ist es, Waffenschmuggel in den Libanon zu unterbinden und für Sicherheit entlang der Grenze zu Israel zu sorgen.
Kurz nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hatte die pro-iranische Hisbollah vom Südlibanon aus damit begonnen, immer wieder Raketen auf den Norden Israels abzufeuern. Die israelische Armee griff als Reaktion Ziele im Südlibanon an. In den vergangenen Tagen sperrte das Militär das Grenzgebiet zum Südlibanon für Zivilisten und ordnete die Räumung von 28 grenznahen israelischen Ortschaften an. Israel, Deutschland, die USA und einige sunnitische arabische Staaten haben die Hisbollah als Terrororganisation eingestuft. Die EU listet lediglich ihren bewaffneten Flügel als Terrorgruppe. Als wichtigste Schutzmacht der Hisbollah gilt der Iran.
Nach seinem Libanon-Besuch reiste Pistorius weiter nach Israel. In Tel Aviv sicherte er seinem israelischen Kollegen Joav Galant zu, die Bundeswehr werde das angegriffene Land mit allem unterstützen, was gebraucht werde. Laut "Spiegel" schnürt Deutschland unter anderem ein Sanitätspaket im Volumen von rund 200.000 Euro. Das Verteidigungsministerium in Berlin bestätigte die Summe auf Anfrage nicht.
Luftwaffe bringt weitere Bundesbürger zurück
Die Bundeswehr hat weitere Menschen aus Israel nach Deutschland ausgeflogen. Ein Airbus landete am späten Mittwochabend mit 19 Passagieren in Köln, wie das Einsatzführungskommando auf der Online-Plattform X (vormals Twitter) mitteilte. Am frühen Mittwochmorgen waren bereits 68 deutsche Staatsbürger nach Berlin gebracht worden. Insgesamt flog die Luftwaffe damit mehr als 300 Menschen aus Israel nach Deutschland.
Seit dem Großangriff der Hamas haben mehrere Tausend Deutsche Israel verlassen. Auf Bitten des Auswärtigen Amts hatte auch die Lufthansa Sonderflüge absolviert.
GdP-Chef: "Widerliche Stimmung in Deutschland"
Die deutsche Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat vor dem Hintergrund von Ausschreitungen bei pro-palästinensischen Demonstrationen und antisemitischen Vorfällen ein konsequentes Handeln gefordert. "Wir brauchen schnelle Gerichtsverfahren und Urteile gegen die Krawallmacher", sagte der GdP-Vorsitzende Jochen Kopelke dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Er sprach von einer "absolut widerlichen Stimmung in Deutschland" und bezog sich damit auch auf Angriffe auf Polizisten sowie den versuchten Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin.
"Alle Polizeien nehmen den Schutz jüdischer Einrichtungen und Menschen ernst und das ist auch bitter notwendig", betonte Kopelke. Durch die Einsätze der vergangenen Tage komme es zu einem massiven Mehraufwand für die Polizei. "Wir brauchen die personellen Ressourcen dafür und auch die Rückendeckung von Politik und Bevölkerung. Dass der Schutz Israels Staatsräson ist, sind gute Worte, aber dann darf es auch keine Diskussionen darüber geben, dass die Polizei zu hart durchgreift", forderte der GdP-Chef.
jj/sti/se/fab/rb/wa/mak (dpa, afp, rtr, kna, epd, phoenix)
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