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"Sie haben uns im Stich gelassen"

Birgit Svensson, Erbil8. August 2015

Ein Jahr nach der Vertreibung Tausender Jesiden im Nordirak sind die dort vom IS eroberten Orte noch immer nicht befreit. Auch US-Luftangriffe zeigten kaum Wirkung. Die Kritik an den kurdischen Peschmerga wird lauter.

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Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge (Foto: Reuters)
Auf der Flucht: Jesiden aus dem Sindschar-GebirgeBild: Reuters

"Wir wollen, dass die guten Leute unsere Gebete hören und unser Land so schnell wie möglich befreien", sagt der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul, Johanna Boutros Mosche. Am Donnerstagmorgen hat er sich mit anderen christlichen Würdenträgern in den Ruinen eines Klosters aus dem 4. Jahrhundert versammelt, um gemeinsam für die Rückkehr in ihre Heimat zu beten. Mar Matai ist das vermutlich älteste Kloster der Welt. Derzeit kann es nur mit Sondergenehmigung besucht werden, denn es liegt im militärischen Sperrgebiet. Die Befreier, von denen der Bischof spricht, haben in Sichtweite des Klosters Stellung bezogen. Das Hauptquartier der kurdischen Peschmerga-Brigade 12 liegt direkt davor auf einer Hügelkette, knapp 100 Kilometer nordwestlich der Kurdenmetropole Erbil.

Ein Jahr ist es nun her, dass der zweite Angriff der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak erfolgte. Zuvor hatte sie Anfang Juni die Zwei-Millionen-Stadt Mossul, die Provinzhauptstadt Tikrit und große Teile der Provinzen Salahuddin, Ninive und Dijala unter ihre Kontrolle gebracht. Vier Wochen später wurde der "Islamische Staat" ausgerufen. Doch der Eroberungsdrang der Dschihadisten war damit nicht beendet. Am 3. August griffen sie die Jesidenstadt Sindschar mit etwa 100.000 Einwohnern an, vier Tage später die Christenstadt Karakosch mit 60.000 Einwohnern. Kurz vor Erbil und Dohuk konnte der Expansionshunger der Mörderbande dann gestoppt werden. Die Amerikaner schickten Flugzeuge. Das erneute militärische Engagement Washingtons im Irak nahm seinen Lauf.

US-Kampfjet über dem Nordirak
Im Einsatz: US-Kampfjet über dem NordirakBild: picture-alliance/dpa

Bilanz ist dürftig

Seitdem sind unzählige Luftangriffe im Irak und auch in Syrien von einer Allianz geflogen worden, die 20 Länder umfasst und von den USA angeführt wird. Doch die Bilanz ihrer Erfolge nach Ablauf eines Jahres ist dürftig. Wann immer eine Erfolgsmeldung aus Washington über die Nachrichtenticker läuft, greift der IS nur wenige Tage später wieder an. Nur eine Woche nach der Rückeroberung der Stadt Tikrit im Nordosten des Landes im April wurde die Hauptstadt der Provinz Anbar im Westen von den Dschihadisten eingenommen. Schon im Dezember verkündete das Pentagon, man habe den IS entscheidend schlagen können, nachdem die kurdischen Peschmerga-Truppen kurz vor Weihnachten ihre Offensive im Nordwesten Iraks starteten. Tatsächlich konnten die Landesteile bis zum Sindschar-Gebirge zurückerobert werden und auch der Mossul-Damm ist nicht mehr gefährdet. Aber die Stadt Sindscharr selbst, aus der Tausende Jesiden auf tragische Weise geflohen waren und verfolgt wurden, ist noch immer in der Hand der Dschihadisten. Und auch über Karakosch, Baschika und Bartella, wo mehrheitlich Christen wohnten, weht noch immer die schwarze Fahne des IS. Bis heute lässt eine zweite Peschmerga-Offensive zur Rückeroberung dieser Städte auf sich warten.

Vom Hauptquartier der 12. Peschmerga-Brigade vor dem Kloster Mar Matai hat man einen weiten Blick in die Ebene von Ninive, dem biblischen Land. Durch das Fernglas des Brigadegenerals ist die schwarze IS-Fahne gut sichtbar. Sie weht auf Moscheen, Funkmasten und Kirchtürmen in Baschika, um allen zu zeigen, wer hier herrscht. Vom Standort der Brigade aus sind es nur drei Kilometer bis dorthin. Doch diese scheinen zurzeit noch unüberwindbar. "Wir haben Erdhügel, Schützengräben und wieder Erdhügel geschaffen, um unsere Stellungen zu festigen", erklärt der Kommandant, "die da drüben haben Minen und TNT-Sprengsätze". Über 1500 Peschmerga-Kämpfer hätten bereits ihr Leben lassen müssen. Immer wieder treten sie auf Minen, wenn sie Gebiete vom IS zurückerobern. Der General hofft, dass bald Experten kommen und seinen Leuten zeigen, wie man diese Minen entdecken und entschärfen kann.

Ein Jahr Leidensweg der Jesiden

Nareen Shammo stammt aus Baschika und hat Tränen in den Augen, wenn sie an ihre Heimatstadt und deren Schicksal denkt. "Baschika war Klein-Irak", schwärmt die 28-Jährige. Dort lebten alle Volksgruppen des Landes seit Jahrhunderten zusammen. Nareen selbst ist Jesidin. Im Vielvölkergemisch Baschikas spielte dies für sie stets eine untergeordnete Rolle. Sie hatte multikulturelle Freunde. Wenn sie als Kind oben auf den Hügeln hinter der Stadt stand, konnte sie Moscheen, Kirchen und auch jesidische Grabmäler sehen. "Ich war glücklich, dass wir alle zusammenlebten", erzählt sie euphorisch. "Das wird nie wieder so sein." Jetzt lebt sie in Erbil und ist skeptisch, ob sie jemals wieder nach Baschika zurück kann. Dort, wo Shammo als Kind stand, stehen jetzt die Peschmerga, die sie für die Misere mitverantwortlich macht. Der Leidensweg der Jesiden wäre ohne Rückzug der Soldaten nicht möglich gewesen, behauptet sie.

Nareen Shammo (Foto: Wadi)
Jesidin aus dem Irak: Nareen ShammoBild: Wadi

Auch Turkmenen und Christen sprechen von Versäumnissen der Kurden, die ihnen Schutz versprochen hatten. Nachdem im Juni 2014 Tausende Soldaten der irakischen Armee desertierten, Menschen und Territorium der Terrormiliz nahezu kampflos überließen, haben zwei Monate später die kurdischen Peschmerga ebenfalls vor IS kapituliert. Die kampflose Flucht von 8000 bis 10.000 Peschmerga hinterließ Verbitterung. Etwa 700 kurdische Kämpfer sollen sogar zum IS übergelaufen sein. Die Schuldzuweisungen kommen nun aus allen Richtungen. Der Mythos, den die kurdischen Freiheitskämpfer über Jahre hinweg aufgebaut hatten, erhielt tiefe Kratzer. Die Schmach für die Peschmerga war groß. Von Verschwörungen ist die Rede. Die Amerikaner hätten den Kurden befohlen sich zurückzuziehen, der israelische Geheimdienst Mossad mache gemeinsame Sache mit IS, hört man häufig. Oder auch, dass Ex-Premier Nuri al-Maliki sich rächen wollte und den zweiten Angriff der Terrorbande auf die Kurden initiiert habe. Nur die plausibelste Erklärung für die Schlappe der Kurden, will niemand so richtig glauben: "Wir waren nicht genug vorbereitet und hatten mangelnde militärische Ausrüstung, um diesem Gegner entgegenzutreten", sagen die Peschmerga-Soldaten auf den Hügeln über Baschika.

"Wir werden diejenigen, die diese Verbrechen an den Jesiden verübt haben, bis zum letzten Mann jagen", sagt Kurdenpräsident Massud Barsani in Dohuk bei einem Gedenken an den IS-Überfall vor einem Jahr. Doch Nareen Shammo glaubt ihm nicht mehr. "Es ist das Vertrauen, das durch die Grausamkeiten des IS verloren geht", umschreibt sie die Stimmungslage ihrer Volksgruppe gegenüber den Kurden. "Sie haben uns im Stich gelassen und dem IS ausgeliefert."