Jesiden fordern mehr Unterstützung
3. August 2015Nummer 74. Auf vielen T-Shirts und Spruchbändern steht diese Zahl. 74 Mal, so haben die Jesiden gezählt, wurden sie in den letzten Jahrhunderten Opfer von Massakern durch die mehrheitlich islamischen Völker in ihrer Nachbarschaft. Verantwortlich für die Grausamkeit Nummer 74 ist der "Islamlische Staat" (IS). Vor genau einem Jahr griff er die Volksgruppe in ihrem Siedlungsgebiet im Nordirak an, enthauptete Männer und Jungen, versklavte Frauen und Mädchen und trieb Hunderttausende ins unwirtliche Sindschar-Gebirge, wo viele in der prallen Sonne ohne Wasser und Lebensmittel ums Leben kamen. "Wochenlang konnten wir unsere Freunde und Verwandten nicht erreichen", erinnert sich Yaman. Die junge Frau steht mit ihrer Schwester vor dem Brandenburger Tor in Berlin. "Wir waren hilflos und haben uns schrecklich gefühlt. Und als wir endlich wieder Kontakt hatten, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte. Die Frage 'wie geht es Euch?' klang so absurd."
Bring back our Girls
Yaman und ihre Schwester sind aus Hannover nach Berlin gereist, um gemeinsam mit anderen Glaubensgenossen an den Beginn der Massaker vor einem Jahr zu erinnern. Hunderte Menschen ziehen die Prachtstraße "Unter den Linden" entlang und versammeln sich vor dem Brandenburger Tor. "Bring back our Girls from ISIS", steht auf Plakaten – in Anlehnung an die Kampagne Bring back our Girls #bringbackourgirls gegen das Kidnapping von Schulmädchen durch Islamisten in Nigeria, die weltweit Aufmerksamkeit fand. Einige schwenken die Fahne der Jesiden – ein roter Streifen auf weißem Grund mit einer gelben Sonne in der Mitte.
Die Zahl der Jesiden wird auf etwa 800.000 geschätzt. Ihr Siedlungsgebiet im Nordirak wurde im vergangenen Jahr teilweise vom "Islamischen Staat" erobert. Die religiöse Minderheit wird von den Radikalislamisten als Ungläubige verfolgt. Nach Angaben der jesidischen Verbände wurden 450.000 Menschen vertrieben – mehr als die Hälfte des Volkes. 7000 Frauen und Mädchen sollen vom IS zu Sklavinnen gemacht - sowie 5000 Männer und Jungen ermordet worden sein. Die Bilder von Flüchtlingen, die im Gebirge ohne Schutz vor der Sonne ausharren, gingen damals um die Welt. Ein Jahr später ist ihr Schicksal längst von anderen Schlagzeilen verdrängt worden. "Man hat das Gefühl, dass die Situation der Jesiden schon wieder in Vergessenheit gerät", sagt Yaman.
"Die Welt schweigt"
Etwa 80.000 Jesiden leben nach Angaben der jesidischen Verbände in Deutschland. Von der deutschen Regierung erhoffen sie sich humanitäre Hilfe und die Aufnahme von Flüchtlingen. Vor allem aber soll Deutschland Druck auf die türkische Regierung ausüben, entschlossener gegen den IS vorzugehen.
"Die ganze Welt sieht, was die türkische Regierung falsch macht und die Welt schweigt", sagt Servet Tekce vom "Yezidischen Forum" in Oldenburg. Um die Stirn hat er sich ein weißes Band gebunden auf dem "Free Shingal" steht. Die Stadt ist das religiöse Zentrum der Jesiden. Mit zwei Bussen seien sie am Morgen nach Berlin gekommen, erzählt Servet. Sie hoffen, hier mehr bewegen zu können als in Köln oder Bremen, wo gleichzeitig Demonstrationen stattfinden. "Wenn wir Aufmerksamkeit erregen wollen, dann sind wir hier richtig", sagt er.