"Spiel auf Zeit ist ein Machtfaktor"
15. November 2017DW: Herr Hofmann, am 24. September wurde ein neuer Bundestag gewählt, frühestens Weihnachten soll die Jamaika-Koalition stehen. Noch nicht einmal die Sondierungen sind abgeschlossen. Muss Wichtiges immer lange dauern?
Thorsten Hofmann: Sicherlich dauert alles, was wichtig ist, auch länger. Wir haben allerdings auch eine neue Konstellation, dass auf Bundesebene vier Parteien miteinander einen Koalitionsvertrag aushandeln müssen. Vier Parteien, die in der Vergangenheit und vor allem im Wahlkampf gegeneinander standen und sich hart bekämpft haben. Deshalb ist jetzt in einer Sondierung erst einmal noch auf etwas anderes zu achten, was man "Beziehungsaufbau" in einer Verhandlung nennt.
Im Wahlkampf selbst sind vielfältige Verletzungen zugefügt worden, weil die Angriffe und Attacken teilweise auch persönlich waren. Jetzt sollen diese Personen, die vorher so hart miteinander umgesprungen sind, nicht nur ein gemeinschaftliches Ergebnis heraus verhandeln, sondern es danach auch umsetzen, also miteinander arbeiten. Dementsprechend ist es jetzt für alle Beteiligten erst einmal notwendig, eine Beziehungsebene aufzubauen. Deswegen dauern nicht nur die inhaltlichen Gespräche so lange, auch die Beziehungspflege braucht Zeit.
Wir erleben gerade Drama, Donnerwetter und Drohgebärden in stetem Wechsel. Ein bisschen viel Pathos, wenn doch am Ende die Kanzlerin fast alles Wichtige entscheidet?
Nun, ob die Kanzlerin wirklich alles entscheidet? Dann bräuchte sie nicht zu verhandeln, denn der Grundrahmen einer Verhandlung ist immer ein Konflikt. Es gibt unterschiedliche Interessenlagen bei den Parteien. Vor diesem Dilemma steht auch Frau Merkel. Was wir aktuell erleben, ist ein sogenannter Dreiklang in einer Verhandlung. Es wird einmal über Inhalte diskutiert, dann geht es um den Prozess, wie es eigentlich weitergehen soll, und zum dritten haben wir noch die Deutung der Verhandlung.
Das ist das, was wir öffentlich wahrnehmen. Das sind die Themen, die auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft stattfinden. Gespeist wird das dann aber auch durch Interviews, die die Verhandlungsparteien den Medien geben. Die Zielrichtung muss nicht unbedingt nur das Verhandlungsgegenüber sein, die Zielrichtung kann manchmal die eigene Partei sein oder die eigenen Wähler: Ich mache mir den Mediendonner zunutze, um die Erwartungen in meiner Wählerschaft oder auch in meiner Partei zu managen. So stellt man dar, dass hart verhandelt wird.
Welche Strategie-Muster sind bei politischen Verhandlungen erkennbar?
Das eine ist das Spiel auf Zeit. Wir haben in dieser Woche einen definierten Zeitrahmen, wann die Sondierungsgespräche abgeschlossen sein sollen, nämlich am Wochenende, wenn auch der Parteitag der Grünen stattfinden soll. Hier kann man natürlich auf Zeit spielen und die wichtigen Themen nach hinten verlagern, um dann in der berühmten "Nacht der langen Messer" vom Verhandlungsgegenüber - von dem ich allerdings dann auch sicher sein sollte, dass er den Verhandlungsabschluss wirklich will - noch ein Entgegenkommen heraushandeln kann.
Das Spiel auf Zeit in einer Verhandlung ist immer ein Machtfaktor. Der andere Strategieteil ist das Hereingehen mit Druck in die Verhandlung. Druck kann ich manchmal über die Öffentlichkeit aufbauen, Druck ist etwas, was ich am Verhandlungstisch symbolisieren kann und Druck zielt immer darauf, dass ich die Urteilsheuristik des Gegenüber beeinflusse.
Das heißt?
Ich versuche, anhand der Informationen, die ich habe, zu beurteilen: Wie weit wird mein Gegenüber gehen, um trotzdem noch diesen Deal hinzubekommen? Das versucht man am Verhandlungstisch zu manipulieren. Kurz gesagt: Es geht darum, unter Zeitdruck mit unvollständigem Wissen zu praktischen Lösungen zu kommen.
Worauf kommt es vor allem an? Auf Konzentration?
Professionelle Verhandler arbeiten ganz stark auf der Beziehungsebene. Da gilt immer: "Beziehungsprobleme werden vor Sachproblemen gelöst." Deswegen konzentriert man sich darauf, die Beziehung zu stabilisieren. Das Zweite, was man braucht, ist, das Gegenüber als Informationsquelle zu nutzen. Man arbeitet mit Fragen, um Informationen aus ihm heraus zu bekommen. Je mehr ich von ihm weiß, desto besser kann ich hinsichtlich seiner eigentlichen Interessen und Bedürfnisse Verhandlungspakete schnüren. Man agiert eben nicht nur mit Positionen, sondern man versucht, hinter den Positionen auch die Interessenlage zu verstehen, die hinter einer Person steht. Es gibt immer Individualinteressen und Organisationsinteressen. Erfahrene Verhandler arbeiten genau das heraus.
Drittens: Ein erfahrener Verhandler hat ein sehr gutes Emotionsmanagement. Er kann seine eigenen Emotionen managen, er ist aber auch in der Lage, die Emotionen der gegenüberliegenden Seite zu managen. Man sagt in der Verhandlung nicht ohne Grund: "Der gefährlichste Gegner sitzt auf dem eigenen Stuhl." Wenn ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle habe, dann habe ich auch die Verhandlung nicht unter Kontrolle.
Die alte Weisheit lautet: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Stimmt das noch?
Man sagt eher: Wer zuerst argumentiert, verliert. Denn die Argumente sind für einen selbst gut und schön, sie klingen auch immer toll, um sich dahinter zu verschanzen. Blöderweise aber - das haben Sie vielleicht auch selbst schon festgestellt - eignen sich Argumente nicht unbedingt zum Überzeugen des Gegenübers. Zum Überzeugen brauche ich immer auch seine eigene Interessen- und Bedürfnislage, deswegen muss ich die vorher erst herausarbeiten.
Angela Merkels Verhandlungsstrategie ist schon fast Legende: Wenn alle müde sind, kommt ihre Stunde. Ist sie strategisch im Vorteil, weil sie Ausdauer hat?
Zeit ist ein Machtfaktor in Verhandlungen. Wenn ich mich am Verhandlungstisch darauf einlasse, dass ich an einem Tag - und der Tag hat 24 Stunden und kann manchmal sogar länger dauern - zum Ende komme, dann lasse ich mich auch auf ein physisches Machtspiel ein. Es geht um die Frage: Wie lange kann ich durchhalten? Das muss sich jeder sehr genau überlegen, inwieweit er dazu in der Lage ist.
Frau Merkel ist sehr geschult darin, wie wir alle schon bei EU-Verhandlungen erlebt haben. Sie hat ein langes Durchhaltevermögen, das hat nicht jeder. Das kann dazu führen, dass man irgendwann mal in einer Nachtsitzung, wenn die Konzentration am Boden liegt, weil man körperlich und psychisch erschöpft ist und einfach nur noch raus will aus der Situation, dann irgendetwas zustimmt, was man vielleicht in einem ausgeruhten Zustand nie gebilligt hätte. Es ist immer eine taktische Frage: Lasse ich mich auf so ein Setting ein? Unter Zeitdruck zu verhandeln, ist kein guter Ratgeber.
Thorsten Hofmann ist Direktor des C4 Institut für Verhandlungen der Quadriga Hochschule Berlin.
Das Interview führte Volker Wagener.