Heimatfilme: "Menschen brauchen Orientierung"
6. Mai 2018Deutsche Welle: Sie lehren seit vielen Jahren Literatur und Film an der Universität in Montréal in Kanada. Ist der Begriff "Heimatfilm" überhaupt gebräuchlich außerhalb von Deutschland?
Jürgen Heizmann: Nein, den kennen vielleicht ein paar Cineasten. Der Heimatfilm aus den 1950er Jahren ist eigentlich ja auch der Tiefpunkt der deutschen Filmgeschichte. Man kennt natürlich "Heimat" (1984) von Edgar Reitz, das war international ein Riesenerfolg, auch und gerade in Nordamerika. Der eine oder andere kennt vielleicht noch die Anti-Heimatfilme von Regisseuren wie Volker Schlöndorff und Uwe Brandner. Die Kitsch-Filme mit Schauspielern wie Rudolf Prack und anderen kennt man aber eigentlich nicht. Diese Heimatschnulzen haben meine Studenten jetzt kennenlernen müssen! Das war dann der Ausgangspunkt, um zu sehen, was der "neue Heimatfilm" heute zeigt.
Auch wenn der Begriff als solcher nicht so bekannt ist, gibt es doch sehr viele "Heimatfilme", das wollte ich zeigen. In den USA gibt es ein "Small Town Cinema" und ein "Prairie Cinema", das ähnliche Phänomene behandelt: Da geht es um regionale Besonderheiten und Probleme. Nehmen sie einen Film wie "Promised Land" (2012) von Gus van Sant, wo es darum geht, ob eine Stadt einer Fracking-Gesellschaft ihr Land verkauft, um die kleine, wirtschaftlich marode Gemeinde zu retten - oder ob man sich aus ökologischen Gründen gegen den Verkauf wehrt.
In dem britischen Film "Local Hero" (1983) von Bill Forsyth wird eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. Da wird ein schottisches Küstendorf vor die Entscheidung gestellt, ob es sein Land an einen texanischen Ölkonzern abtreten soll. Das Witzige an dem Film ist, dass die geschäftstüchtigen Schotten durchaus bereit sind, ihr idyllisches Fischerdorf zu verkaufen. Der Amerikaner, der die Verhandlungen führen soll, aber zusehends dem Charme des Dorfes erliegt. Es geht mir darum zu zeigen, dass bei diesen Filmen aus anderen Ländern zwar nicht "Heimatfilm" draufsteht, dass sie aber durchaus als Heimatfilme gesehen werden können.
Geht es eigentlich bei solchen Filmen immer um ländliche Regionen, um die Provinz - im Gegensatz zu Filmen, die in der Stadt spielen?
Meist hat man es tatsächlich mit ländlichen Gebieten zu tun. Ein Beispiel ist Kanada und das kanadische Kino. In Kanada, diesem riesigen Land, gibt es nur drei Metropolen. Das spielt im Kino eine ganz große Rolle, dieser Gegensatz von Stadt und Land und dass die Jugendlichen wegmüssen aus den ländlichen Regionen, weil es am Ort für sie keine Perspektive gibt. Dieses aktuelle Problem ist Thema vieler Filme. In Québec ist das ähnlich. Wer im Norden lebt, ist vor die Frage gestellt: Bleibe ich hier in der geliebten aber abgelegenen Provinz oder ziehe ich nach Montréal?
Aber man kann den Heimatbegriff auch durchaus erweitern auf "Small Town", oder, wenn Sie an das französische Kino denken, da spielen die Vorstädte von Paris oft eine Rolle. Es gibt Heimatfilme, die spielen in einem Kiez. Manchmal beschränkt sich das auf eine Kneipe, die für eine Handvoll Menschen ein Zufluchtsort in einer anonymen Geschäftswelt ist, den man verteidigen muss gegen irgendwelche Immobilienfirmen. Eigentlich geht es immer um einen Ort, mit dem Leute etwas verbinden, denen dieser Ort etwas bedeutet, der sie geprägt hat oder für den sie sich engagieren wollen. Da spielt in den heutigen Filmen die Globalisierung eine wichtigere Rolle.
Vor dem Hintergrund des neuen Heimatministeriums in Berlin, das der bayerische Politiker Horst Seehofer führt: Wie stellt sich das für Sie aus der kanadischen Perspektive dar?
Wenn ich ganz offen bin, für mich ist das zunächst einmal grotesk: Ein Heimatministerium in Berlin errichten, das ist doch schon ein Widerspruch in sich. Soll jetzt von Berlin aus verhandelt werden, was Heimat für die Menschen in Baden oder in Schleswig-Holstein bedeuten soll? Das ist doch ein Unding. Heimat ist nicht Nation. Heimat sind überschaubare Regionen. Das ist schon mal merkwürdig.
Und dann ist Heimat, wie wir wissen, ein etwas vorbelasteter Begriff, der immer von der Rechten in Anspruch genommen wurde, so dass es natürlich - wie man auf Badisch sagen würde - ein G'schmäckle hat, wenn das jetzt gerade ein CSU-Politiker übernimmt. Ich bedaure das insofern als dadurch ein altmodischer Heimatbegriff zementiert werden könnte. Ich denke, es gibt auch einen anderen, moderneren Heimatbegriff, der sich nicht gegen alles Fremde abschottet und zum Beispiel Migranten ausschließt.
Aber aus der Perspektive von Seehofer, aus Berlin, sich für die einzelnen Regionen einzusetzen, also zum Beispiel für Mecklenburg-Vorpommern oder die Pfalz, da muss man gucken, wie das laufen soll. Ich kann mir das im Moment nur sehr schwer vorstellen, wie das von einer Zentrale aus verwaltet werden soll. Das ist für mich ein Widerspruch, dass eine Zentrale bestimmen soll, was in verschiedenen "Heimaten" mit ihren verschiedenen Problemen und Bedürfnissen gemacht werden soll. Ich sehe das gerade anders: Man sollte doch mehr vom Lokalen ausgehen.
Kommen wir zurück zur Kunst, zum Begriff Heimatfilm, wie definieren sich solche Filme in anderen Nationen, auch wenn es diesen spezifischen Begriff wie im Deutschen nicht gibt?
Das ist im Deutschen ein sehr komplexer Begriff, der mit Emotionen und Geschichte aufgeladen ist. Das haben wir im Französischen und im Englischen nicht. Nur die entsprechenden Begriffe in den slawischen Sprachen haben vielleicht eine ähnliche Bedeutungsvielfalt. Aber das, was ausgedrückt werden soll, das hat man letztendlich überall. Ich war zum Beispiel letztes Jahr in der Jury des Filmfestivals "Der neue Heimatfilm" in Freistadt/Österreich. Da gibt es immer sehr viele italienische und osteuropäische Filme. Gerade im osteuropäischen Film spielt Selbstentfremdung und die Suche nach Heimat eine große Rolle.
Nach dem Niedergang des Sozialismus, wo plötzlich die Identität in Frage gestellt wurde, wo es keinen zentralen Staat mehr gab, der alles bestimmt, da haben sich viele Städte und Gemeinden auf die Suche gemacht und sich gefragt: Wer sind wir eigentlich? Wie sehen wir uns und unsere Geschichte? Die Frage nach Heimat und Identität wird in vielen dieser Filme verhandelt - auch wenn sie nicht mit dem Etikett "Heimatfilm" versehen sind. Und das gleiche gilt für andere Kinolandschaften. Es gibt viele Filme, die man als Heimatfilme sehen kann.
Können Sie da ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie doch einen so berühmten Film wie "Willkommen bei den Sch'tis", das ist eine Komödie, die einen so großen Erfolg hatte, weil sie eben eine bestimmte Region vorstellt, mit "kauzigen" Leuten. Natürlich hat dieser Film auch gewisse Kitschmomente, bietet ein wenig Eskapismus, weil er die aktuellen Probleme in Frankreich ausblendet, den wirtschaftlichen Abstieg, Migrationsprobleme, die Debatten, die Frankreich beherrschen. Aber es gibt eben diese Region, wo die Leute sich noch begrüßen, wo es einen Gemeinschaftsgeist gibt und noch nicht alle Besonderheiten durch die Globalisierung ausradiert wurden. Der Film hatte ja erstaunlichen Erfolg, auch im Ausland, gerade auch in Deutschland, weil er offenbar eine Sehnsucht anspricht. Die Sehnsucht nach einem Ort, der eine kollektive Identität besitzt und an dem man sich zu Hause fühlt.
In Ihrem Buch "Heimatfilm International" beschreiben Sie Filme von Regisseuren aus großen Filmnationen, Fellini aus Italien, britische Regisseure, immer geht es um die Verankerung im Regionalen. Ist das der Schlüssel für die Erklärung von Heimat - der Ort?
Manchmal sind es sicher auch universelle Themen, die verhandelt werden - aber oft geht es von einer Topografie aus, von einem Ort, von den Menschen an dem Ort, und was dieser Ort eben für diese Menschen bedeutet. Das ist immer sehr wichtig: Es ist nicht eine zufällige Kulisse, sondern diese Menschen und ihre persönliche Geschichte sind eng mit diesem Ort verbunden. In diesem Sinn ist Heimat ein Antidot [ein Gegenmittel, Anm. d. Red.] gegen die Entmaterialisierung unserer Kultur. Denn wir können zwar global kommunizieren, aber nicht global leben. Einen direkten Zugriff auf "das Ganze" haben wir nicht - Heimat aber ist ein konkreter gemeinsamer Erfahrungsraum.
…und da hat Edgar Reitz "Heimat" auch eine internationale Ausstrahlung gehabt?
Ja, denken Sie zum Beispiel an die BBC-Serie "The Village" (2013), die als Großbritanniens Antwort auf "Heimat" angekündigt wurde. Auch hier wird Ortsgeschichte im emphatischen Sinn erzählt, im Mikrokosmos des Dorfes spiegelt sich die Geschichte Englands im 20. Jahrhundert. Das findet man auch in anderen Ländern, diesen Blick von unten auf Geschichte. Wie es ja eigentlich auch sein sollte. Man erzählt Geschichte, wie sie erlebt wird von Menschen an einem Ort. Und wie sich dieser Ort dann auch verändert, wie die Geschichte eingreift in diesen Ort und wie die Menschen dazu stehen.
Welche Themen werden in den Heimatfilmen behandelt, ob man sie so nennt oder nicht?
Ich denke, die großen Themen! Dazu gehören das Verhältnis des Menschen zur Natur, die Suche nach Identität, die Problematik von Integration und Entfremdung sowie die Spannung zwischen Tradition und Fortschritt. Will man bestimmte Änderungen an einem Ort durchführen oder wehrt man sich dagegen? All diese Dinge werden in diesen Filmen verhandelt.
Und wie gehen die Autoren und Regisseure da vor?
Ganz verschieden. Heimatfilme können der Form nach Komödien, Sozialdramen, Coming-of-Age-Stories oder Geschichtsfilme sein. Immer wird aber ein Narrativ bereitgestellt, durch das soziale und kulturelle Konstellationen und Konfliktsituationen erst sichtbar und erzählbar werden.
Ist dieses Narrativ nicht umso wichtiger in Zeiten der Globalisierung?
Ja, das sehe ich auch so. Überspitzt gesagt, macht die Globalisierung die Menschen heimatlos. Im Global Village ist niemand zu Hause. Es schwinden ja die alten Sozialformen, es gibt eine unglaubliche Dynamik von Umwälzungen. Dadurch entsteht eine Unsicherheit, die sich die rechtspopulistischen Parteien zunutze machen. Weil sie diese Angst ansprechen und dann mit ihren simplen Scheinlösungen kommen. Wer komplexe Sachverhalte vereinfacht, ist immer ideologisch. Ich denke aber, dass Menschen ein Narrativ brauchen, das ihnen Orientierung gibt, das ihnen Werte und Gefühle vermittelt - als Antwort auf die Prozesse und Veränderungen, die durch die Globalisierung ausgelöst worden sind.
Jürgen Heizmann ist seit 1996 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Filmästhetik an der Université de Montréal. Als Herausgeber ist er u.a. für den Band "Heimatfilm international - Reclam Filmgenres" verantwortlich, Reclam Verlag Stuttgart 2016, 192 Seiten, ISBN 978-3-15-019396-9.
Das Gespräch führte Jochen Kürten.