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Issa, Sinwar & Co.: Wer sind die Anführer der Hamas?

Veröffentlicht 23. November 2023Zuletzt aktualisiert 27. März 2024

Bei der Militäroffensive in Gaza verfolgt Israel die völlige Zerschlagung der radikal-islamischen Hamas. Nun wurde der Tod des ranghohen Hamas-Führers Marwan Issa bestätigt. Doch er ist nicht die einzige Führungsfigur.

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Rauchwolken ziehen über Chan Yunis im südlichen Gazastreifen nach einem Luftschlag der israelischen Armee Ende Februar
Rauchwolken ziehen über Chan Yunis im südlichen Gazastreifen nach einem Luftschlag der israelischen Armee Ende FebruarBild: SAID KHATIB/AFP/Getty Images

Marwan Issa galt als dritthöchster Führer der Hamas im Gazastreifen. Nun hat die israelische Armee die Tötung Issas bei einem Luftangriff vor zwei Wochen bestätigt. "Wir haben alle Geheimdienstinformationen überprüft und die Gewissheit erlangt", sagte Armeesprecher Daniel Hagari. Issa und ein weiterer Hamas-Führer seien bei einem  Angriff der israelischen Luftwaffe getötet worden. Der Angriff sei auf Grundlage von Informationen des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet erfolgt. 

Issa ist der bislang höchstrangige Hamas-Vertreter, der seit dem Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas getötet wurde. Bereits zuvor hatten die USA bestätigt, dass Issa während der israelischen Militäroperation im Gazastreifen getötet wurde. Eine Stellungnahme der Hamas, die von den USA, der EU und anderen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, liegt nicht vor.
Issa sei "einer der Organisatoren des Massakers vom 7. Oktober, sagte Armeesprecher Hagari weiter. Dabei hatten Hamas-Angreifer die Grenzanlagen des Gazastreifens überwanden, mehr als 1200 Zivilisten getötet und rund 240 Menschen als Geiseln verschleppt.

Als Reaktion auf den Angriff geht Israel seither massiv militärisch im Gazastreifen vor, erklärtes Ziel ist die Zerschlagung der Hamas. Nach Hamas-Angaben, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden in dem Palästinensergebiet seitdem mehr als 32.300 Menschen getötet.

Karriere bei den Kassam-Brigaden: Marwan Issa

Marwan Issa wurde 1965 in einem Flüchtlingslager in Gaza geboren. Seine Familie stammte aus der Nähe von Aschkelon im heutigen Israel und floh während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1949 in den damals ägyptisch kontrollierten Gazastreifen. Über Issas Jugend ist nur bekannt, dass er zunächst den islamistischen Muslimbrüdern angehörte, aus denen sich die Hamas später als eine Tochterorganisation entwickelte. In Israel verbüßte er während der ersten Intifada (1987-1993) eine fünfjährige Haftstrafe. Auch die Palästinensische Autonomiebehörde verhaftete Issa im Jahr 1997, er wurde jedoch nach Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 wieder freigelassen. Danach schloss er sich den Kassam-Brigaden an. Diese gelten als militärischer Arm der Hamas und sind unter anderem berüchtigt dafür, zahlreiche Selbstmordanschläge in Israel begangen zu haben. Seit 2012 war Issa stellvertretender Anführer der Brigaden und Mitglied des Politbüros der Hamas.

Blick in einen Tunnel der Hamas. Israelische Soldaten erkunden das Gebiet.
Marwan Issa soll zuletzt in einem Tunnel des weitverzweigten Hamas-Tunnelsystems Zuflucht gefunden habenBild: IDF/Xinhua/picture alliance

Seit Jahren stand Issa auf der israelischen Fahndungsliste weit oben; in der Vergangenheit hatte er mehrere gezielte Tötungsversuche überlebt. Im Dezember 2023 hatte auch die EU ihn auf ihre Terrorliste gesetzt. Bereits vergangene Woche soll Issa bei einem israelischen Angriff auf einen Hamas-Tunnel in der Nähe des Flüchtlingslagers Nuseirat getötet worden sein.

Der "Schlächter von Chan Yunis": Jihia al-Sinwar

Jihia al-Sinwar, der Kommandeur der militant-islamistischen Hamas im Gazastreifen, ist Israels derzeit meistgesuchter Mann. Denn er soll der führende Kopf hinter der blutigen Terrorattacke vom 7. Oktober gewesen sein. Sinwar gilt als charismatisch und hochintelligent, dabei aber brutal und skrupellos: Der 61-Jährige führt die Hamas in Gaza mit eiserner Hand. Geboren 1962 im Flüchtlingslager von Chan Junis im Süden des Gazastreifens, war er Ende der 1980er Jahre eines der Gründungsmitglieder der Hamas. So war Sinwar am Aufbau ihres militärischen Arms, der Kassam-Brigaden, beteiligt, die zahlreiche Selbstmordanschläge in Israel begingen. Außerdem ging er gegen mutmaßliche Israel-Kollaborateure in den eigenen Reihen vor - so brutal, dass er als "Schlächter von Chan Junis" bekannt wurde.

Jihia al-Sinwar, der Chef der Hamas im Gazastreifen
Der Chef der Hamas im Gazastreifen - und aktuell Israels meistgesuchter Mann: Jihia al-SinwarBild: Mohammed Abed/AFP

1988 verurteilte ihn ein israelisches Gericht wegen Mordes an mehreren mutmaßlichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten zu einer vierfach lebenslänglichen Haftstrafe. Im Gefängnis lernte Sinwar Hebräisch und studierte die Denkweise des "Feindes", indem er Bücher berühmter israelischer Persönlichkeiten las. Wegen eines Hirnabszesses schwebte er zeitweise in Lebensgefahr - israelische Ärzte sollen ihm mit einer Operation das Leben gerettet haben.

Nach 22 Jahren Haft kam Sinwar 2011 zusammen mit mehr als 1000 weiteren palästinensischen Häftlingen frei - im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit. Er kehrte nach Gaza zurück und war fortan zuständig für die Verbindung zwischen militärischem und politischem Arm der Hamas. 2017 wurde er dann Chef der Terrororganisation im Gazastreifen.

Dass Sinwar für den Kampf gegen Israel auch bereitwillig palästinensische Zivilisten opfere, unterstellte ihm unlängst Benjamin Netanjahu. Sinwar, so der israelische Premier, interessiere sich nicht für das Schicksal seines Volkes und verhalte sich "wie ein kleiner Hitler in seinem Bunker".

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Will mit aller Härte gegen die Hamas in Gaza vorgehen: Israels Premierminister Benjamin NetanjahuBild: Chad J. McNeeley/AA/picture alliance

Die "Katze mit den neun Leben": Mohammed Deif

Seit 2002 leitet Mohammed Deif die Kassam-Brigaden, den militärischen Flügel der Hamas in Gaza. Israel macht ihn für zahlreiche Selbstmordattentate und die Tötung dutzender israelischer Soldaten und Zivilisten verantwortlich. Auch sei er mitverantwortlich für das weitverzweigte Hamas-Tunnelsystem in Gaza. Den verheerenden Angriff der Hamas am 7. Oktober soll Deif zu großen Teilen mitgeplant und kommandiert haben; auch ihn hofft die israelische Armee bei ihrem Militäreinsatz ausschalten zu können.

Unscharfes Bild von Mohammed Deif
Die einzige bekannte Aufnahme von Mohammed Deif stammt aus dem Jahr 2000Bild: HO/AFP

Deif gehört bereits seit 1995 zu den meistgesuchten Männern Israels. 2000 war er zwischenzeitlich in israelischer Haft, konnte jedoch in den Wirren der zweiten Intifada, des bewaffneten Palästinenseraufstandes von 2000 bis 2005, entkommen. Seitdem hat er kaum Spuren hinterlassen. Sieben Attentatsversuche soll er bereits überlebt haben, allerdings zum Teil schwer verletzt: er habe ein Auge, einen Fuß und einen Teil seines Armes verloren, heißt es. Mehrere Mitglieder seiner Familie wurden bei den Anschlägen getötet. Deif tritt nie öffentlich auf, das einzig bekannte Foto von ihm stammt aus dem Jahr 2000. Von ihm ist lediglich bekannt, dass er seit Jahren jede Nacht in einem anderen Haus übernachten soll, um sich vor israelischen Angriffen zu schützen.

Die Köpfe in Katar: Ismail Hanija und Chalid Maschaal

Eine komplette Zerschlagung der Hamas könnte sich für Israel schwierig gestalten, denn zwei ihrer wichtigsten Führungsfiguren befinden sich gar nicht in Gaza, sondern im Golfemirat Katar. Dies ist zum einen Ismail Hanija, der allgemein als der oberste Anführer der Organisation gilt. Auch er wurde in einem Flüchtlingslager im Gazastreifen geboren. Hanija besuchte zunächst eine Schule der Vereinten Nationen und studierte danach an der Islamischen Universität von Gaza, wo er in Berührung mit radikalen Unabhängigkeitsbewegungen kam. 1993 wurde er dort zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt, 1997 Büroleiter des geistlichen Führers der Hamas.

Recep Tayyip Erdogan hakt Palästinenserpräsident Mahmud Abbas (li.) und Hamas-Chef Ismail Hanija (re.) unter
Im Juli 2023 redeten sie miteinander: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas (li.) und Hamas-Chef Ismail Hanija (re.) im Büro des türkischen Präsidenten Recep Tayyip ErdoganBild: Mustafa Kamaci/Anadolu Agency via REUTERS

Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 wurde er von Präsident Mahmud Abbas zum palästinensischen Premierminister ernannt, nur ein Jahr später jedoch wieder entlassen, nachdem die Hamas in einer Welle tödlicher Gewalt die Fatah-Partei des Präsidenten aus dem Gazastreifen verdrängt hatte. Hanija hat diese Entlassung jedoch nicht akzeptiert, weshalb die palästinensischen Gebiete bis heute faktisch zweigeteilt sind: Im Westjordanland regiert die Fatah, im Gazastreifen die Hamas, zu deren Leiter des Politbüros Hanija im Jahr 2017 gewählt wurde - als Nachfolger von Chalid Maschaal.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow mit Khaled Mashal sitzen auf zwei Sesseln und sprechen
Reden gerne miteinander: Chalid Maschal und der russische Außenminister Sergej Lawrow Bild: Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation/dpa/picture alliance

Maschaal wurde 1956 im Westjordanland geboren und studierte Physik an der Universität Kuwait. Auch Maschaal radikalisierte sich an der Universität; er lebte später in Syrien und Jordanien, von wo aus er Gründungsmitglied der Hamas und 1996 deren Vorsitzender wurde. Immer wieder rief er zum Terror gegen Israel auf. 1997 überlebte er ein Attentat des israelischen Geheimdienstes Mossad. Als Maschaal 2012 zum 25-jährigen Bestehen der Hamas über Ägypten nach Gaza reiste, betrat er zum ersten Mal nach 45 Jahren wieder kurzzeitig eines der Palästinensergebiete. 2017 räumte er seinen Posten als Hamas-Chef für Hanija, ist aber heute Leiter des Auslandsbüros der Terrororganisation.

Dieser Artikel erschien zunächst am 23.11.2023 und wurde am 19.03. sowie am 27.03.2024 aktualisiert.

Thomas Latschan Bonn 9558
Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik