Hamas: Wer sind die Die Al-Kassam-Brigaden?
2. November 2023Der stellvertretende Hamas-Führer Saleh al-Arouri beschrieb den Terrorangriff seiner Organisation auf Israel am 7. Oktober kürzlich auf eine Weise, die allen gängigen und gut verbürgten Darstellungen und Zeugenschilderungen diametral widerspricht: "Der militärische Plan der Essedin-al-Kassam-Brigaden war es, die Gaza-Division der Besatzungsarmee anzugreifen und nur die Besatzungssoldaten zu bekämpfen", so das allen vorliegenden Belegen trotzende Gegen-Narrativ des Hamas-Funktionärs, der obendrein den Terror seiner Organisation ungerührt als vorauseilende Notwehr zu rechtfertigen versucht: "Wir hatten Informationen, dass die Besatzung einen Angriff auf uns nach den hebräischen Feiertagen plante."
Mit diesen Worten zitiert die israelische Zeitung Jerusalem Post al-Arouri auf Basis eines Interviews, das er in der vergangenen Woche dem katarischen Nachrichtensender Al-Jazeera gegeben hatte. Insgesamt, so al-Arouri, seien 1200 Mitglieder der Al-Kassam auf israelisches Territorium vorgedrungen. Eine der wenigen Aussagen in dem Interview, die möglicherweise stimmen könnten.
Denn: Wie die israelischen Streitkräfte kurz vor einem angeblichen geplanten eigenen Angriff auf Gaza die Grenzsicherung derart vernachlässigen konnten, dass hunderte Milizen dort einzudringen vermochten, diese völlig unvorstellbare Konstellation erklärt al-Arouri nicht. Auch seine übrigen Erläuterungen dürften wohl allenfalls seine Anhänger überzeugen: Die Al-Kassam-Brigaden selbst hätten die israelischen Zivilisten gar nicht getötet, behauptete er. Diese seien vielmehr im Rahmen von folgenden Gefechten durch "Zivilisten" aus Gaza getötet worden.
Al-Arouri versucht damit von der Verantwortung der so genannten Al-Kassam-Brigaden abzulenken, deren Gründungskommandeur er selbst ist. Die Brigaden sind der militärische Arm der militant-islamistischen Hamas, die in Deutschland, der Europäischen Union, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft ist. Der oberste Führer der Al-Kassam-Brigaden, Mohammed Deif, konnte den israelischen Sicherheitskräften bislang immer wieder entkommen Er gilt schon länger als Kopf hinter zahlreichen tödlichen Terrorangriffen auf Israelis.
Namenspatron Essedin al-Kassam
Gegründet wurden die Brigaden, die am 7. Oktober mindestens 240 israelische Zivilisten entführten und jetzt als Geiseln halten, im Jahr 1992. Dem CIA-Factbook 2023 zufolge verfügen die Brigaden als militärischer Arm der Hamas über eine Anzahl von 20.000 bis 25.000 Kämpfern.
Der Name der Terror-Miliz geht auf den syrischen Prediger Essedin al-Kassam (1882-1935) zurück, der zu seiner Zeit die britische Kolonialmacht in Palästina bekämpfte. Al-Kassam predigte den gewaltsamen Widerstand gegen die von ihm als "neue Kreuzritter" bezeichneten Kolonialmächte und rief zu einem so genannten "Dschihad" auf. Zugleich wollte er schon damals die vor Ort lebenden Juden aus der Region vertreiben. Mitglieder der von ihm damals gegründeten militanten Zellen töteten in den 1930er Jahren mehrere ortsansässige Juden. Al-Kassam selbst starb später bei einem Feuergefecht mit der britischen Mandatspolizei.
Angriffe unterirdisch und über das Meer
Einem Aufsatz der mit Fragen der Terrorbekämpfung befassten Webseite Long War Journal aus dem Jahr 2021 zufolge verfolgen die Al-Kassam-Brigaden zahlreiche "Projekte", die allesamt dem Terror und Kampf gegen Israel dienen. So widmen sie sich seit Jahren dem Bau jener Tunnel, in denen die Hamas sich vermutlich auch derzeit wieder verschanzt und gegen die Israel jetzt zumindest mit ersten Bodeneinsätzen vorgeht. Ein Teil dieser unterirdischen Anlagen dient gezielt auch zum Angriff. Durch einen dieser Tunnel entführten die Al-Kassam-Brigaden 2006 außerdem auf israelischem Territorium auch den Soldaten Gilad Shalit.
Zugleich griffen die Brigaden Israel schon mehrfach auch über das Meer an - so etwa im Jahr 2014 als mehrere Marinekommandos nahe der Stadt Aschkelon im Süden Israels landeten. Anschließend wurden die Terroristen im Kampf mit der israelischen Armee getötet. Angesichts des Umstandes, dass der Gazastreifen seit fast 15 Jahren abgeriegelt sei und unter Blockade stehe, seien die von den Al-Kassam-Brigaden entwickelten militärischen Fähigkeiten und Ressourcen dennoch insgesamt bemerkenswert, heißt es in dem Aufsatz des Long War Journal.
Unterstützung aus dem Iran
Unterstützt werden die Brigaden seit Jahren aus dem Iran. Die Hamas selbst hat sich zu dieser Unterstützung wiederholt offen bekannt. "Die Islamische Republik Iran hat viel dazu beigetragen, einerseits Wissen und Know-how weiterzugeben und andererseits die Raketen zu transportieren", sagte Khaled al-Qaddumi, Repräsentant der Hamas in Teheran, dem Nahost-Magazin 'Al Monitor' im Mai 2021. "Damit hat sie der Hamas geholfen, sich auf ihre lokalen Fähigkeiten zu verlassen und solche fortschrittliche Technologie herzustellen", so al-Qaddumi.
Diese Unterstützung sei in den vergangenen zehn Jahren noch einmal deutlich angestiegen, sagt Michael Milshtein, ehemaliger Angehöriger des israelischen Militärgeheimdienstes und heute Forscher am Moshe Dayan Center der Universität Tel Aviv. So bilde Iran die Al-Kassam-Milizionäre militärisch aus. "Sie trainieren Scharfschützen, unterrichten sie im Bau von Sprengfallen, als Fallschirmspringer oder Paraglider - also in all dem, was am 7. Oktober bei dem Angriff auf Israel zum Einsatz kam", so Milshtein im DW-Interview.
Bitcoins und Banken
Wie die Al-Kassam-Brigaden sich finanzieren, ist nicht abschließend und in allen Details geklärt. Doch auch hier spiele Iran eine herausragende Rolle, meint Michael Milshtein. "Wir sprechen von riesigen Geldsummen, die Iran vor allem dem militärischen Teil der Hamas zukommen ließ. Allein in den vergangenen zwei bis drei Jahren belief sich diese Summe auf rund 100 Millionen Dollar."
Im August 2020 berichtete das israelische Justizministerium, es sei gelungen, Spenden an die Hamas per Bitcoins aufzuhalten. Demnach hatten die Brigaden Anfang 2019 auf ihrer Social-Media-Seite zu entsprechenden Schenkungen aufgerufen.
Bereits ein Jahr zuvor hatte das US-Finanzministerium Namen von Personen veröffentlicht, die für den Transfer "Dutzender Millionen Dollar" zwischen den Islamischen Revolutionsgarden und den Al-Kassam-Brigaden in Gaza verantwortlich gewesen seien. Die Gelder seien über die Hamas gelaufen, so das Ministerium. Eine zentrale Rolle habe eine der libanesischen Miliz Hisbollah verbundene Bank gespielt.
Geschmuggelte Waffen
Die Menge und Vielfalt der bei dem Angriff vom 7. Oktober eingesetzten Waffen - Raketen, Flugkörper, Drohnen und Kleinwaffen - deuten ebenso wie der seitdem fortgesetzte Beschuss auf Israel an, über welch gewaltiges Arsenal die Hamas und ihr militärischer Arm verfügen. Verlässliche Zahlen sind dazu nicht bekannt.
Der Großteil der Waffen wird offenkundig in den Gazastreifen geschmuggelt. Das geschehe über verschiedene Wege, so der israelische Sicherheitsexperte Milshtein. Die wichtigsten seien iranische Lieferungen über Syrien und über den Libanon, wo die Hisbollah beim Transport der Waffen helfe.
Diesen Weg bestätigte im Dezember 2020 auch der Führer der ebenfalls vom Iran unterstützen palästinensischen Miliz "Islamischer Dschihad", Ziad al-Nakhala.
Das Jerusalem Institute for Strategy and Security (JISS) zitiert auf ihrer Webseite aus einem Interview, das al-Nakhala 2020 dem iranfreundlichen Sender al-Mayadeen gab: "Alle konventionellen Waffen gelangten über … die Hisbollah und Syrien nach Gaza. Die gesamte Achse des Widerstands (so nennt die Führung in Teheran das Netz ihrer gegen Israel gerichteten nicht-staatlichen Akteure, Anm. d. Red.) war an ihrem Transport beteiligt." Es gebe zudem Ausbildungslager in Syrien, in denen die Hamas-Milizen eine spezielle Ausbildung zur Herstellung von Raketen erhielten, zitiert das JISS weiter aus dem Interview mit al-Nakhala. Unmittelbar vor Ort gibt es dann nur zwei mögliche Schmuggelwege: Überirdisch oder unterirdisch über die Landgrenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen - oder über den Seeweg.
Laut einem Bericht des Begin-Sadat-Center für Strategic Studies (BESA) aus dem Jahr 2021 soll übrigens auch die von Israel und international immer wieder angeprangerte Taktik der Al-Kassam-Brigaden, Zivilisten in Gaza als "menschliche Schutzschilde" gegen israelische Angriffe auf ihre eigenen Mitglieder und Waffenarsenale zu missbrauchen, auf einschlägigen iranischen Einfluss zurückgehen - konkret auf Anleitungen der Iranischen Revolutionsgarden. Ziel dieser Taktik sei, durch den Tod vieler Zivilisten auf eigener Seite international den Eindruck hervorzurufen, der Feind handele unverhältnismäßig und attackiere gezielt in großem Ausmaß die Zivilbevölkerung.