1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Israels Bodenoffensive in Gaza: Der Häuserkampf beginnt

6. November 2023

Israels Offensive gegen die Hamas im Gazastreifen geht in die nächste Phase: Im Kampf von Haus zu Haus drohen hohe Verluste für beide Seiten - und für palästinensische Zivilisten.

https://p.dw.com/p/4YSzn
Soldaten in Kampfmontur mit Maschinengewehr in einer Ruinenlandschaft
Israelische Soldaten im Gazastreifen auf einem vom israelischen Militär herausgegebenen FotoBild: Israel Defense Forces via AP/ Photo/picture alliance

"Wir werden weitermachen, bis wir gewonnen haben. Wir haben keine andere Wahl." Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat alle Gedanken an eine Feuerpause beiseite gefegt. Mit seiner Bodenoffensive gegen die islamistische Hamas nach deren Massaker an Israelis mit mehr als 1400 Toten hat das israelische Militär den Gazastreifen in zwei Teile geschnitten und kreist jetzt Gaza-Stadt ein. Noch beschränkt sich der Häuserkampf auf eher ländliche Gebiete; bald dürfte er in der zerbombten Stadt selbst beginnen.

"Für diese Operation sind die israelischen Soldaten sehr gut vorbereitet", sagt der britische Militärexperte Frank Ledwidge von der Universität Portsmouth der Deutschen Welle. "Im urbanen Kampf sind sie erfahrener als jede andere Streitmacht der Welt." Den Häuserkampf trainiert die israelische Armee seit Jahren in einem speziellen Zentrum in der Negev-Wüste. Doch jetzt ist Ernstfall.

Die Lehren aus dem Kampf um Mossul

Die USA unterstützen Israel militärisch wie diplomatisch und beraten die israelische Regierung, warnen aber vor zu hohen Erwartungen. Kämpfe in urbanem Umfeld seien "extrem schwierig" und gingen nur langsam voran, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin dem Sender ABC.

Zerstörte Stadt
Zerstörungen in Gaza-Stadt: Noch hat der Häuserkampf dort nicht begonnenBild: Bashar Taleb/APA Images via ZUMA Press/picture alliance

Die Amerikaner wissen, wovon sie reden. Bei den schweren Kämpfen der US-geführten Koalition gegen den sogenannten Islamischen Staat in Syrien und dem Irak gab es zum Teil hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung. Manche Schätzungen gehen von rund 10.000 toten Zivilisten allein beim Kampf um Mossul in den Jahren 2016/17 aus. Volle neun Monate dauerte der Kampf von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, und das, obwohl der IS damals international isoliert war und keine Hilfe von außen bekam.

Die Hamas im Gazastreifen dagegen, die von den USA, der EU und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, ist militärisch besser ausgerüstet und wird vom Iran und der libanesischen islamistischen Hisbollah-Miliz unterstützt. US-Präsident Joseph Biden hatte Israel bereits bei seinem Besuch Ende Oktober gewarnt, es solle nicht die Fehler der USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wiederholen und sich von Wut leiten lassen.

Häuserkampf: Gefahren von vorn, hinten, oben und unten

Aber ein Zurück gibt es für Israel offenbar nicht mehr. Die israelischen Streitkräfte sind den Hamas-Kämpfern zwar zahlenmäßig weit überlegen, die militanten Palästinenser haben aber einen großen Vorteil: Sie kennen das Gelände und haben sich lange vorbereitet.

Mann mit Ohrhörern vor einer Bücherwand
Britischer Militärexperte Frank Ledwidge: Die Israelis sind "sehr gut vorbereitet"Bild: DW

Der britische Experte Ledwidge nennt einige der besonderen Herausforderungen urbaner Kriegführung. Das größte Problem seien Sprengfallen. Überall in den Gebäuden, viele von ihnen nach israelischem Luft- und Artilleriebeschuss nur noch Ruinen, würden versteckte Auslöser lauern. Es sei schwierig und langwierig, diese Fallen zu beseitigen.

Das weitverzweigte Tunnelsystem im Gazastreifen stellt ein ganz eigenes Problem dar. Vor allem in Gebieten mit zusammenhängender Bebauung "können sich Kämpfer zwischen einzelnen Gebäuden bewegen, ohne hinaus auf die Straße zu müssen", sagt Ledwidge. Dadurch geraten die Soldaten leicht in einen Hinterhalt. "Urbane Kämpfe sind dreidimensional", so der Militärfachmann. "Man kann von vorn angegriffen werden, von hinten und von oben (durch Drohnen) - und in Gaza (durch die Tunnel) auch von unten."

Männer mit Tarnanzügen und automatischen Gewehren in einem schmalen Gang
Das Tunnelsystem, das sich durch den gesamten Gazastreifen zieht, soll hunderte Kilometer lang seinBild: Ashraf Amra/AA/picture alliance

Israelische Soldaten stehen außerdem in der Gefahr, entführt und dann als Geiseln genommen zu werden. Sie kämen dann zu den mehr als 200 zivilen israelischen Geiseln hinzu, die die Hamas weiterhin in ihrer Hand hat. Noch können die Terroristen sie als Faustpfand einsetzen. Versucht die israelische Armee aber, sie direkt zu befreien, glauben viele Experten, werde die Hamas sie töten .

Schwierig zu sagen, wer Zivilist ist

Schließlich die heikle Frage palästinensischer Zivilisten im Gazastreifen und die Taktik der Hamas, sie als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Die USA und andere westliche Regierungen, darunter die deutsche, haben Israel dringend aufgefordert, Zivilisten zu schonen. Das hat Israel auch zugesichert. Doch schon jetzt sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums durch die israelischen Angriffe fast 10.000 Menschen getötet worden.

Israel hat Zivilisten im Gazastreifen aufgefordert, den nördlichen Teil zu verlassen, der das Hauptkampfgebiet gegen die Hamas ist. Hunderttausende von ihnen befinden sich aber noch dort. "Es ist sehr schwierig (im Häuserkampf), zwischen Hamas-Terroristen und denen zu unterscheiden, die keine Kämpfer sind", sagt Militärexperte Ledwidge.

Panzer inmitten einer halb zerstörten, staubigen Ortschaft
Israelische Bodenoffensive: Westliche Regierungen warnen vor hohen Opfern unter der ZivilbevölkerungBild: Israel Defense Forces/Handout via REUTERS

Bei den Warnungen vor zivilen Opfern der israelischen Offensive denken die westlichen Regierungen auch an die Gefahren einer regionalen Eskalation. "Es geht der Hamas darum, schreckliche Bilder toter palästinensischer Zivilisten zu produzieren und dadurch den Iran und seine Proxys in diesen Konflikt mit hineinzuziehen", sagte Hans-Jakob Schindler von der internationalen Organisation Counter Extremism Project kürzlich der Deutschen Welle.

In seiner ersten Rede seit Beginn des jüngsten Konflikts hat Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Freitag aber nicht zum Krieg gegen Israel aufgerufen. Für Frank Ledwidge "sieht es so aus, als sei die Gefahr einer regionalen Eskalation jedenfalls kurzfristig deutlich gesunken". Nasrallah sei realistisch und erkenne an, dass eine große Mehrheit der Libanesen eine Begrenzung des Konflikts auf den Gazastreifen wolle.

Was kommt nach Israels Einsatz im Gazastreifen?

Israels Verteidigungsminister Joaw Galant rechnet in jedem Fall mit monatelangen Kämpfen. "Es kann einen Monat dauern, zwei oder drei, aber am Ende wird es keine Hamas mehr geben", sagte Galant vor einigen Tagen zuversichtlich.

Israel teilt den Gazastreifen

Aber selbst wenn die libanesische Hisbollah-Miliz keine weitere Front im Norden eröffnet und Israel die Hamas entscheidend besiegt, stellt sich die Frage, was danach kommt. Die letzte große Bodenoffensive Israels im Gazastreifen hatte im  Juli 2014 begonnen, zehn Tage nach Beginn massiver Luftangriffe. Der bewaffnete Konflikt dauerte insgesamt fast zwei Monate. Damals war das Ziel aber nicht die komplette Zerstörung der Hamas. Bislang ist unklar, welchen Plan Israel für die Zeit nach einem Ende der Bodenoffensive im Gazastreifen hat.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik