Muslime flüchten vor dem IS
6. März 2016Deutsche Welle: Ein Großteil der weltweiten Flüchtlinge stammt aus Syrien und dem Irak. Dem sogenannten "Islamischen Staat" laufen also die Muslime davon - ausgerechnet in Richtung der "Ungläubigen". Befindet sich der IS in der Krise?
Peter Neumann: Die Muslime fliehen nicht nur aus dem vom IS besetzten Territorium. Aber der "Islamische Staat" hat in Videobotschaften und sogar Fatwas unmissverständlich erklärt, dass es "eine große Sünde" sei, wenn man den IS verlasse und nach Europa fliehe. Man habe die religiöse Pflicht, im "Islamischen Staat" zu bleiben, denn an keinem anderen Ort könne man angeblich in einer so perfekten Gesellschaft leben. Der IS will die Bevölkerung in den Gebieten natürlich nicht verlieren – aus ideologischen und ökonomischen Gründen.
In den letzten beiden Jahren konnten wir beobachten, dass viele gemäßigte und gebildete Menschen aus den IS-Gebieten geflohen sind. Deshalb gibt es dort auch keine Ärzte und Ingenieure mehr. Und auch die Ölproduktionsanlagen stehen still, weil es keine Leute gibt, die sie bedienen können. Das stellt den IS vor gewaltige Probleme.
Jüngst konnte man aus den Medien entnehmen, dass der IS die Löhne seiner Kämpfer halbieren musste. Erleben wir gerade den langsamen wirtschaftlichen Niedergang des Kalifats-Projekts?
Das beruht auf Dokumenten, auf die einer meiner Kollegen, Aymenn al-Tamimi, gestoßen ist. Sie belegen, dass innerhalb des IS-Kerngebietes in Syrien und im Irak eine wirtschaftliche Krise eingesetzt hat. Zum einen wurden die Löhne der IS-Kämpfer gekürzt, was der signifikanteste Hinweis für einen Niedergang darstellt, denn die Kämpfer zählen ja zur gesellschaftlichen 'Elite' des "Islamischen Staates". Zum anderen existiert keine richtige medizinische Versorgung mehr, keine Ärzte. Und auch die Kosten für Schul- und Lehrbücher müssen von den Eltern in den vom IS kontrollierten Gebieten selbst bezahlt werden. Das war vorher nicht der Fall.
Zur Beuteökonomie des IS gehört, dass dieser ständig militärisch expandieren muss, um das wirtschaftliche Leben in den IS-Kerngebieten am Leben halten zu können. Ich sehe hier durchaus eine Parallele zu Nazideutschland. Auch damals war die Wirtschaft ohne militärische Expansion nicht überlebensfähig und ständig davon abhängig, dass immer neue Gebiete erobert, annektiert und ausgebeutet werden mussten. Ganz ähnlich verhält es sich auch im Fall des IS.
Werden die "Gotteskrieger" des IS in den Medien falsch dargestellt? Viele Soldaten scheinen keine ideologische Ziele zu verfolgen, sondern wollen vielmehr ein festes Gehalt und eine kostenlose Wohnung...
Schauen Sie nach Deutschland: Als die Nazis an die Macht kamen, hat auch nicht die gesamte Bevölkerung an die Nazi-Ideologie geglaubt. Nicht mal alle Mitglieder der NSDAP waren ideologisch gänzlich auf Linie gebracht, es gab viele Opportunisten. Im Prinzip haben diejenigen, die nach der Machtergreifung Hitlers der NSDAP beigetreten sind, dies mitunter aus Karrieregründen getan. Und genau so verhält es sich im Fall des "Islamischen Staates" auch. Wir dürfen daher nicht davon ausgehen, dass diejenigen, die in Syrien und im Irak mitmachen, alle hundertprozentig überzeugte ideologische Kämpfer sind. Viele machen mit, weil sie sich gewisse Privilegien und wirtschaftlichen Erfolg versprechen.
Ein weiterer Grund für den Erfolg des "Islamischen Staates" im Irak und in Syrien ist auf den dort herrschenden konfessionellen Konflikt zurückzuführen. Der IS hat sich sehr geschickt in diesen Konflikt eingeschaltet. Er ist die schlagkräftigste Gruppe, die gegen die irakische Regierung von Nuri al-Maliki und zugleich gegen die Bevormundung durch Minderheiten in Syrien kämpft.
In Ihrem Buch "Die Neuen Dschihadisten" warnen Sie ausdrücklich vor Panikmache und antiislamischen Ressentiments in Deutschland. Gleichzeitig haben Sie darauf hingewiesen, dass "es Anschläge in Deutschland geben wird". Das klingt recht widersprüchlich…
Mein Argument ist immer gewesen, dass wir in der Vergangenheit - ob in Deutschland oder auch in anderen Ländern - stets zu extremen Reaktionen geneigt haben. Wenn sich ein Anschlag ereignete, entstand plötzlich große Panik - und man vermutete hinter jeder Moschee einen Terroristen. Wenn dann zwei Monate nichts passierte, hieß es, man müsse sich nun keine Sorgen mehr machen. Doch wir müssen mit dieser Bedrohung realistisch umgehen, sie existiert, und es werden sicher auch noch weitere Anschläge folgen. Wahrscheinlich wird es dieses Jahr sogar ähnliche Attentate geben wie in Paris. Man sollte daher realistisch bleiben, womit man auch verhindert, dass es nach einem weiteren Anschlag zu einer erneuten Panikreaktion kommt.
Müssen wir uns also an diese Bedrohung künftig gewöhnen?
Ja.
Sie glauben, dass heute auch vom rechten Rand der Gesellschaft eine zunehmende Gefahr droht, die nicht nur die Polarisierung fördert, sondern auch eine ernste Gefahr für die Muslime in Europa darstellt. Ist es das Ziel der Dschihadisten, mit ihren Anschlägen die gesellschaftliche Spaltung voranzutreiben?
Es ist eine Konsequenz. Ob das so vom sogenannten "Islamischen Staat" konkret beabsichtigt ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Es könnte gut sein, aber ich führe immer auch den tatsächlichen Beweis für eine These. Allerdings habe ich noch kein Statement oder Dokument des "Islamischen Staates" gesehen, in dem dieses Ziel dezidiert formuliert worden ist. Natürlich ist es für den IS, genau wie davor für al-Qaida, ein Ziel, eine Situation herbeizuführen, in der die Muslime vor die Wahl gestellt werden: "Bin ich für einen Islam, wie ihn der IS repräsentiert, oder aber bin ich für die Feinde des Islams?"
Der deutsche Politikwissenschaftler Peter Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und leitet seit 2008 das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das weltweit bekannteste Forschungsinstitut zum Thema Radikalisierung und Terrorismus.
Das Gespräch führte Michael Erhardt.
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